Der Consul
sagte: »Ich habe solche Angst, Herr Kommissar.«
»Dazu gibt es keinen Grund. Uns passiert nichts«, sagte ich.
»Das meine ich ja nicht. Ich dachte an meinen Sohn. Der ist doch bei der SA. Wenn ihm nun auch noch etwas geschieht!« Sie schluchzte.
Elisabeth Wuttkes Mann war im Krieg im Osten gefallen, seitdem zog sie ihren Sohn allein auf. Sie hatte bisher nicht erzählt, dass er Nazi war. Es passte nicht zu ihr.
Mir lag der Satz auf der Zunge, er sei selbst schuld, niemand habe ihren Sohn gezwungen, bei einer Bürgerkriegsarmee anzuheuern. Er könne auch jederzeit ausscheiden. Aber ich sagte
nichts.
Das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelte, ich ging wieder hinüber. Es war die Sekretärin des Präsidenten. Melcher wolle mich sprechen. Ich staunte, dass der Präsident sich in diesem Augenblick für meine Ermittlungen interessierte, und machte mich auf den Weg. Selma Wieczorek tippte, als ich ihr Zimmer betrat. Ich fragte mich, ob sie auch zu Hause tippte. Ich konnte sie mir nicht vorstellen ohne Schreibmaschine. Sie drehte sich zu mir um und zeigte mit dem Finger auf die Tür zu Melchers Büro.
Melcher stand hinter seinem Schreibtisch mit einem Blatt in den Händen. Er nickte, als er mich sah. »Draußen marodieren bewaffnete Trupps, Rotfrontkämpferbund, SA, SS, Reichsbanner, von denen aber nur ein paar, Stahlhelm. Warum, verdammt, haben wir dieses Rattenpack nicht samt und sonders verboten? Wir leben in einem Rechtsstaat, glauben wir wenigstens, und Hunderttausende von Leuten gehören Militärorganisationen an, die nichts anderes tun, als sich für den Bürgerkrieg zu rüsten. Das ist doch verrückt.«
Jetzt erkannte ich die Schweißperlen auf seiner Stirn.
»Die Reichswehr steht hinter der Regierung«, sagte ich. Es war eine Hoffnung, keine Gewissheit. Auch wenn es mir komisch vorkam, ich glaubte, Melcher trösten zu müssen. Mir fiel ein, wie Papen und Schleicher sich belauert hatten. Ob Schleicher putschen wollte? Ich hatte in der Zeitung gelesen, dass Seeckt, einst Chef der Heeresleitung, gesagt haben soll: Der einzige, der in Deutschland einen Staatsstreich durchführen könne, sei er. Aber er tue es nicht. Ob Schleicher es tat? Er schien jetzt der starke Mann zu sein.
Melcher schaute mich an. »Was soll die Polizei tun in einem Staat, der sich auflöst, weil die meisten Bürger und Politiker ihn nicht wollen? In einem Staat, in dem es möglich ist, dass wildgewordene Horden einen Polizeipräsidenten festsetzen wollen. Sie hätten diese verkommenen Typen sehen sollen.«
»Vorhin hat die Reichswehr das Präsidium umstellt«, sagte ich.
»Das habe ich veranlasst.« Er kratzte sich am Schädel. »Hoffentlich war es kein Fehler. Nachher fällt Schleicher ein, Papen abzuservieren und mich gleich mit. Dann schickt er mir einen Leutnant mit zwei Mann, und ich weiche der Gewalt.« Er lachte bitter. »Vielleicht will Schleicher sich mit den Sozis und den Gewerkschaften arrangieren. Mich überrascht nichts mehr. Erst jagt Papen die preußische Regierung zum Teufel, dann holt Schleicher sie zurück, und im Preußischen Abgeordnetenhaus sagen unsere Freunde von den Nazis und der Kommune einfach, wir machen nicht mit. Sie haben die Mehrheit und können jede Regierung und jeden Beschluss verhindern. Dann geht der Kladderadatsch von vorn los. Ich hätte in Essen bleiben sollen.«
Ich kannte Melcher schlecht. Er hatte bisher den Unnahbaren gegeben, wahrscheinlich auch, weil er nicht mit Gegenliebe rechnete im Präsidium. Nun war der Mann fertig mit den Nerven. So viel hatte ich ihn noch nie reden hören.
»Und was machen Ihre Ermittlungen?«
»Wir versuchen es mit der Leichenattrappe. Die Beschuldigten müssten inzwischen von Erfurt nach Leipzig überführt worden sein. Ich werde morgen oder übermorgen hinfahren, sie noch einmal vernehmen und mit der Oberreichsanwaltschaft sprechen. Wir müssen wohl beide laufen lassen.«
»Wenden Sie sich an den Oberreichsanwalt Dr. Voß, er vertritt den Fall. Der Landgerichtsrat Dr. Böse leitet die Voruntersuchung. Und Sie glauben, dass die beiden es nicht waren? Obwohl sie gelogen haben?«
»Das beweist nichts.«
»Vielleicht wäre es manchen Herren lieber, die beiden wären es gewesen.« Er starrte mich an.
Ich ahnte, auf was er hinaus wollte. Er hatte Schiss um seine Stellung, vielleicht auch um sein Leben. Möglicherweise bildete er sich in schlaflosen Nächten ein, es wäre am besten für ihn, wenn der Fall Hitler geräuschlos erledigt würde. »Röhm haben
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