Der Countdown
Apartments im vierzigsten Stock des Mori Towers aus, doch in Gedanken war sie noch bei ihrem Urlaub in den Rockies.
War sie wirklich um die halbe Welt gereist?
Sie seufzte. Glücklich darüber, wieder zu Hause zu sein, beschloss sie, ihren Koffer im Schlafzimmer auszupacken. Morgen würde sie sich mit ihrer Tochter Miki in der Nähe der Kaiserlichen Gärten zum Mittagessen treffen und ihr von den wundervollen Bergen erzählen.
Vorsichtig holte sie einen Geschenkkarton aus ihrem Koffer und entfernte das Papier, bis eine kleine Eisbärfigur und ein zweiter, kleinerer Bär aus handgeschnitzter Jade zum Vorschein kamen. Eine Mutter und ihr Junges. Sie wusste, dass Miki das Paar sehr gefallen würde. Die beiden Frauen waren sich nähergekommen, seit Setsukos Mann gestorben war.
Toshiro.
Er lächelte von dem in Gold gerahmten Foto auf ihrem Nachttisch. Er war höherer Beamter im Justizministerium und ein freundlicher Mann gewesen. Er starb an Lungenproblemen, die ihn seit Jahren quälten – seit dem Giftgasanschlag der Aum-Sekte in der U-Bahn von Tokio.
Ihren Mann zu verlieren hatte Setsuko, die als Wirtschaftsprofessorin an der Universität von Tokio lehrte, fast zerstört. Schließlich ging sie in den vorzeitigen Ruhestand und zog von Chiba ins Zentrum von Tokio, um ihrer Tochter Miki näher zu sein.
Miki war wütend über den Tod ihres Vaters. Sie hatte sich von allen zurückgezogen und sich in die Arbeit vergraben. Setsuko wollte Mikis Isolation nie akzeptieren und ließ sie niemals allzu lange allein, indem sie regelmäßig anrief oder bei ihr vorbeischaute. Mit der Zeit öffnete ihr Miki ihr Herz und nahm Setsuko wieder in ihr Leben auf; erlaubte es ihr wieder, ihre Mutter zu sein.
Dies alles war nicht zuletzt Setsukos Freundinnen Mayumi und Yukiko zu verdanken, die sie immer wieder bestärkt hatten, bei Miki nicht aufzugeben. Dafür liebte sie die beiden. Sie liebte sie auch dafür, dass sie darauf bestanden hatten, sie auf ihrer Reise in die Wildnis Kanadas zu begleiten. Eine Reise, von der Setsukos Ehemann immer geträumt hatte.
Der Urlaub war wunderschön gewesen, doch es fühlte sich auch gut an, wieder zu Hause zu sein.
Setsuko machte beim Auspacken eine Pause.
Sie ging mit ihren Kamera-Speicherkarten zum Schreibtisch, knipste den Computer an und begann, damit ihre Reisefotos zu betrachten.
Die Frauen befanden sich auf einem Gipfel, in einem Wald, neben einem Fluss, auf dem Icefield Parkway. Hier eine Aufnahme mit Elchen auf dem Golfplatz in Banff. Dann ein Mann mit einem Cowboyhut. Lächelnd und kichernd klickte sich Setsuko durch Dutzende von Bildern, bis sie bei einem innehielt.
Ihr Lächeln verblasste.
Das Bild zeigte, wie Mayumi und Yukiko in Cowboyhüten lachend an ihrem Tisch in einem Restaurant außerhalb von Banff saßen. Setsuko hatte es während der letzten Tage ihrer Reise aufgenommen.
Etwas an dem Bild störte sie.
Etwas Vertrautes.
Sie starrte auf das Foto und versuchte sich zu erinnern.
Die Menschen im Hintergrund.
Sie kehrte zu ihren Koffern zurück und stöberte in den tiefen Seitentaschen, wo sie Zeitschriften, Landkarten und Zeitungen verstaut hatte. Schließlich fand sie das Exemplar des
Calgary Herald
, den die Stewardessen im Flugzeug angeboten hatten. Sie erinnerte sich, dass sie ihn kurz überflogen hatte, bevor sie auf dem Flug nach Vancouver eingedöst war, wo sie in den Flieger nach Japan umstiegen.
Sie legte die Zeitung auf den Schreibtisch.
Da war die Schlagzeile, an die sie sich erinnerte:
US-Familie stirbt in den Bergen
. Dazu gab es Bilder von Ray und Anita Tarver und ihren zwei Kindern Tommy und Emily. Eine hübsche Familie, dachte Setsuko, während sie den Artikel las.
Da sie ihre Doktorarbeit in London und Harvard geschrieben hatte, war ihr Englisch makellos. Laut dem Bericht hatten die Behörden die Leichen der Mutter und ihrer Kinder gefunden, nicht aber die des Vaters, Ray Tarver, einem freien Journalisten aus Washington, D. C.
Der Artikel schloss mit der Aufforderung der Royal Canadian Mounted Police, dass jeder, der etwas über den Aufenthalt der Familie Tarver im Faust’s Fork berichten konnte, sich bei ihnen melden sollte.
Setsuko verglich die Bilder in der Zeitung mit den Leuten auf dem Foto, das sie im Restaurant aufgenommen hatte. Bei dem Mann im Hintergrund, der an dem Tisch hinter Setsukos Freundinnen saß, handelte es sich eindeutig um Ray Tarver.
Setsuko hatte keinen Zweifel.
Sie überprüfte die Daten. Die Tragödie hatte sich ein
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