Der Coup von Marseille
Ich dachte, wir könnten heute vielleicht mit ihm zu Abend essen.«
Philippe Davin hatte sich bei Sams letztem Besuch in Marseille als eine der angenehmsten Überraschungen entpuppt. Er arbeitete als Berichterstatter bei La Provence, der selbst ernannten Bibel der provenzalischen Neuigkeiten. Philippe hatte Sam unter seine Fittiche genommen und ihm alle möglichen Informationen gegeben, dafür gewährte Sam ihm sozusagen vorab die Exklusivrechte an jeder schlagzeilenträchtigen Geschichte, die sich im Zuge seiner Suche nach dem gestohlenen Wein ergeben könnte. Und obendrein hatte der Journalist sich als Fahrer des Fluchtfahrzeugs zur Verfügung gestellt – einem Lieferwagen älteren Baujahrs, der einem Installateur gehörte –, mit dem Sam die Weinflaschen aus Rebouls Keller fortschaffte. Der krönende Abschluss seines journalistischen Projekts war der Flug nach Los Angeles, wo er Danny Roth interviewte, den rechtmäßigen Besitzer besagter Flaschen, und in diesem Zusammenhang hatte er auch Elena kennengelernt.
Zu Sams Erleichterung hatten sich die beiden auf Anhieb verstanden. Philippe war wie ein großer, ungebärdiger Welpe um Elena herumscharwenzelt, hatte sie la bomba latina genannt und sie mit seinen ausgefallenen Komplimenten und kümmerlichen Spanischkenntnissen erheitert. Im Gegenzug hatte sie ihm einen »Crashkurs L. A.« angedeihen lassen, wie sie es nannte, eine Einführung in die Gewohnheiten und Zerstreuungen der Großstadt, und sein Lerneifer hatte sie mit großer Genugtuung erfüllt. Er sympathisierte mit den Lakers, als sie sich im Stadion ein Baseballspiel ansahen, aber der Fußball nach amerikanischem Muster, Football genannt, blieb für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Er war verblüfft über die unnatürliche Gelassenheit der Taxifahrer von Los Angeles, verdutzt über die horrenden Preise der bescheidenen Holzhäuser am Strand von Malibu, hocherfreut von der schier endlosen Parade junger Blondinen, beeindruckt von den kalifornischen Weinen und perplex angesichts der akrobatischen Kunststücke von Wellenreitern, die längst das Pensionsalter erreicht hatten – kurzum, alles, was er sah, faszinierte ihn. Allerdings musste er auch zwei Enttäuschungen verarbeiten: Am Muscle Beach war weit und breit nichts vom ehemaligen Gouverneur Schwarzenegger zu entdecken, und bei einem Besuch im Starbucks machte niemand Anstalten, eine Waffe zu zücken. Doch abgesehen davon war die Reise ein großer Erfolg gewesen, und er hatte Elena das Versprechen abgenommen, ihn in Marseille zu besuchen, damit er sich revanchieren konnte.
»Philippe? Sam hier. Ich bin ein paar Tage in der Stadt.« Er zuckte zusammen und hielt das Handy ein Stück weit vom Ohr entfernt, um die Lautstärke der überschwänglichen Reaktion zu dämpfen.
»Hör zu, ich erzähle dir alles persönlich. Wie wäre es, wenn wir heute Abend gemeinsam Essen gehen? Du überlegst dir, wo, und ich rufe dich später noch einmal an. Ich habe einen deiner weiblichen Fans mitgebracht.«
Er reichte Elena das Telefon. Es erfolgte ein zweiter Freudenausbruch vonseiten Philippes, gefolgt von Zuneigungsbekun dungen, die Elena die Schamröte in die Wangen trieben. »Phi lippe«, unterbrach sie ihn schließlich. »Du bist unverbesserlich . Wir sehen uns heute Abend. Kann es kaum noch erwarten.«
Inzwischen fuhren sie die Bergstraße nach Cassis hinunter, vorbei an gepflegten Weingärten, aus deren Trauben jener Weißwein hergestellt wurde, der in Marseiller Feinschmeckerkreisen als die einzig angemessene Begleitung für eine bouillabaisse galt. Die Marseiller hatten eine etwas romanartige Version von der Geburtsstunde der Weine aus Cassis entwickelt, wie Olivier seinem amerikanischen Freund erklärte.
Die Weingärten waren, so hieß es, von le bon dieu höchstselbst geschaffen worden. Der liebe Gott stieg eines Tages vom Himmel herab und erblickte eine Familie, die auf den steinigen Hängen oberhalb von Cassis im Schweiße ihres Angesichts das Land bestellte. Trotz ihrer Knochenarbeit schien nichts auf dem kargen Boden zu wachsen. Das stimmte den Allmächtigen traurig, und als er sah, wie sehr die Familie litt, vergoss er eine Träne. Wie durch ein Wunder fiel die Träne auf eine kümmernde Weinrebe, die umgehend wuchs und gedieh, bevor sie einen herrlichen – manche würden sa gen himmlischen – Wein mit zartgrüner Tönung hervor brachte. Der provenzalische Dichter und Nobelpreisträger Frédéric Mistral, der zwischen den zwölf Gesängen seines
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