Der Coup von Marseille
berühmten Versepos Mireia noch genug Zeit fand, sich mit einem Glas zu stärken, behauptete, einen Hauch Heidekraut, Rosmarin und Myrrhe darin entdeckt zu haben.
»Wir werden eine Flasche zum Mittagessen kosten«, sagte Sam zu Elena. »Und dann kannst du uns mit deinem em pfindsamen Gaumen und deiner im Weinseminar verfeinerten Fähigkeit in Erstaunen versetzen, die Freuden desselben auf das Köstlichste zu beschreiben.«
Elena pflegte Sarkasmus niemals ungestraft durchgehen zu lassen, doch dieses Mal war sie zu sehr damit beschäftigt, den Ausblick zu genießen. Cassis gilt vielen Provencelieb habern als schönste Stadt der Küste. Abgesehen von den Wein gärten kann sie alles vorweisen, was eine malerische Kulisse ausmacht: eine mittelalterliche Zitadelle, steile Klippen, Strände, einen bezaubernden, von Cafés und Restaurants gesäumten Hafen und sogar ein Spielcasino, in dem die Marseiller Haus und Hof verzocken.
Olivier setzte sie ab und deutete in die Richtung, in der sich der Hafen befand. Auch er hatte eine Verabredung zum Mittagessen, mit einem Mädchen vor Ort, und als er ihnen bon appétit wünschte, hoffte er, dass sie sich Zeit ließen. Er hatte andere Dinge im Kopf.
Der Hafen von Cassis, Motiv von Millionen Ansichtskarten und Opfer unzähliger schlechter Hobbymaler, wirkt fast zu pittoresk, um wahr zu sein. Er ist klein – der Spaziergang von einem Ende zum anderen nimmt gerade mal fünf Minuten in Anspruch –, und gelegentlich begegnet man sogar einem Einheimischen mit Schirmmütze und ärmellosem Unterhemd, der den Büchern von Marcel Pagnol entsprungen zu sein scheint. Fischer hocken in ihren Booten, die Scheren blit zen in der Sonne, während sie Seeigel öffnen und den »Nek tar« aussaugen. Männer mittleren Alters mit üppigen Schnauz bärten sitzen in den Straßencafés und beäugen junge blonde Frauen, die an einem coupe Champagner nippen. Kleine, bunt gestrichene Fährschiffe pendeln zwischen dem Hafen und den schmalen Buchten mit den steil aufragenden Felsen hin und her, die von den Einheimischen calanques genannt werden. Die Luft ist rein und salzig, und die Sonne taucht die ganze Szenerie in ihren goldenen Schein. Die Mühen der Arbeit und andere Zumutungen des Lebens scheinen Lichtjahre entfernt zu sein.
In einem Straßencafé fanden Elena und Sam einen Tisch mit ungeschmälerter Aussicht auf die Prozession der Passanten. Nach einer Weile stellte Elena fest, dass sie sich anhand ihrer Kleidung zwei Gruppen zuordnen ließen, die sich deutlich voneinander unterschieden. Die Touristen waren wie im Hochsommer angezogen, obwohl es erst Frühling war: Die Frauen flanierten in flatternden Gewändern, Sandalen, weißen Strandkleidern und mit dem obligatorischen Strohhut von der Größe eines Wagenrads, die Männer liefen in T-Shirts und zerknitterten Shorts mit ausgebeulten Taschen herum, in denen ihre Habseligkeiten untergebracht waren (oder schlim mer noch, in eingelaufenen Hosen mit Tarnmuster, die fünfzehn Zentimeter über dem Knöchel endeten). Dagegen hat ten sich die Einheimischen, die dem Wetter offenkundig nicht trauten, mit dicken Pullovern oder Schals vor möglichen Schneestürmen geschützt, dazu trugen die Damen noch Stiefel und die Herren Lederjacken. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich diese zwei Gruppen von Passanten, die Touristen und die Einheimischen, in zwei unterschiedlichen Klimazonen bewegten.
»Mein Vater geht gerne auf die Jagd«, sagte Elena. »Und er rastet völlig aus, wenn er sein Gewehr zu Hause gelassen hat und ihm ausgerechnet dann ein kapitaler Bock oder ein Wildschwein über den Weg läuft. ›Was man nicht alles zu Gesicht bekommt, wenn man keine Waffe zur Hand hat‹, pflegt er zu sagen. Nun, jetzt weiß ich, was das für ein Gefühl ist.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Kai, wo eine Frau mit unnatürlich roten Haaren neben einem Poller posierte, während ihr Begleiter an seiner Kamera herumfummelte. Die Frau hatte die vierzig weit überschritten. Sie trug die kürzesten kurzen Hosen, die man sich nur vorstellen kann, und die hochhackigsten hohen Schuhe, und ihre Beine erinnerten an bleiches Gebein, das den Winter unter einem Grabstein verbracht hatte. Dennoch hatte sie allem Anschein nach eine hohe Meinung von ihrem äußeren Erscheinungsbild, stolzierte um den Poller herum, warf ihre radioaktiven Locken mit gekonntem Schwung zurück und erneuerte zwischen den einzelnen Aufnahmen ihr Lipgloss.
»Wenn Französinnen
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