Der Coup von Marseille
verbergen er sich die größte Mühe gegeben hatte, seit sie letztes Jahr in Wappings Menagerie aufgetaucht war. Eine hochnäsige Zicke, so nannte er sie insgeheim, die sich alles unter den Nagel riss, was sie in die Finger bekam, mit dem Ehrgeiz, die vierte Lady Wapping zu werden. In seinen Augen war Annabel nichts als ein völlig überflüssiger Kostenfaktor. Trotzdem schien Wapping versessen darauf, einiges in sie zu investieren. Prendergast tippte auf die Papiere, die vor ihm lagen. »Bevor du dich aus dem Staub machst, Billy.«
Wapping reagierte mit einem entschuldigenden Achselzucken in Richtung Annabel. »Sag Tiny, er soll die Maschine schon mal startklar machen, ich bin in ein paar Minuten da.«
Annabel warf ihm einen Luftkuss zu, nahm ihre Krokodillederhandtasche von der Größe eines Militärrucksacks und verschwand in Richtung Hubschrauber.
Der Lord warf einen flüchtigen Blick auf die Papiere und drückte die Überreste seiner Zigarre in dem Kristallaschenbecher aus. »So, und jetzt zu dir. Schreib allen eine E-Mail. Sag ihnen, dass ich mich in der letzten Runde eines Verhandlungsmarathons befinde, um ein umfangreiches Bauprojekt in Marseille an Land zu ziehen. Er wird in ein oder zwei Wochen abgeschlossen sein, und danach werde ich in London erscheinen, um ihnen die guten Neuigkeiten höchstpersönlich mitzuteilen.« Wapping stand auf und wisch te Zigarrenasche von der Vorderseite seines Hemds. »Das war’s. Damit können wir die Mistkerle noch eine Weile hinhalten.«
»Hoffen wir es, Billy. Hoffen wir es.«
Der Weg vom Vieux Port zu dem imposanten Gebäude ensemble, das von den Marseillern La Vielle Charité oder einfach La Charité genannt wurde, war kurz und steil. Es war von Pierre Puget entworfen worden, einem gebürtigen Marseiller, der zum Hofbaumeister Ludwigs XIV. avancierte. Auf grund seines makellosen architektonischen Stammbaums hatte Patrimonio dieses barocke Juwel als Kulisse für seinen Empfang gewählt. Der Abend würde eine Art Premiere darstellen – zum ersten Mal sollten die Modelle, die Sam und seine beiden Mitbewerber ins Rennen schickten, öffentlich ausgestellt werden, und Sam wollte sichergehen, dass sein Modell richtig installiert worden war.
Er bahnte sich den Weg durch die eng gewundenen Gassen des alten Stadtviertels Le Panier, wo Puget 1620 das Licht der Welt erblickt hatte (rein zufällig in einem Haus mit Blick auf jenen Platz, wo er knapp fünfzig Jahre später sein Meisterwerk schuf). Unterwegs ließ Sam noch einmal einige historische Fakten in Verbindung mit dem Bauwerk Revue passieren, die er dem Gespräch mit Reboul entnommen hatte.
Trotz des Namens, der auf eine wohltätige Einrichtung für die Armen der Stadt verwies, war La Charité ursprünglich nichts weiter als ein schmuckes Gefängnis gewesen, in dem man jene Bettler und Landstreicher einquartierte, die im 17. Jahrhundert die Straßen von Marseille überschwemmten. Die Zustände waren so katastrophal, dass die Stadt als gigantischer cours des miracles bezeichnet wurde, ein beschönigender Name für ein irdisches Jammertal, und die Kaufleute von Marseille beschlossen, diesem Missstand ein Ende zu setzen. Kriminelle waren schlussendlich geschäftsschädigend. Und so wurden sie zusammengetrieben, weggesperrt und nur zur Zwangsarbeit herausgelassen. So viel zum Thema Wohltätigkeit.
Nach der Revolution besserte sich die Situation ein wenig. Alte und Gebrechliche, Notleidende und Obdachlose wurden in das Armenhospiz aufgenommen, aber nicht zur Arbeit gezwungen. Und so dämmerte die Charité vor sich hin, bis sie Ende des 19. Jahrhundert aufgegeben wurde. Nach einem letzten krampfhaften Aufbäumen im Ersten Weltkrieg, in dem sie als Quartier für ein Krankenschwesternkorps diente, überließ man die Alte Charité ihrem Schicksal, sprich dem Verfall.
Erst in den 1960er-Jahren beschloss Marseille, eines seiner architektonischen Schmuckstücke wieder aufzupolieren, und nach zwanzig Jahren unermüdlicher Restaurationsarbeit hatte sich La Charité wieder in ein Bauwerk verwandelt, auf das Pierre Puget hätte stolz sein können.
Sam wusste nicht genau, was für ein Gebäude ihn erwartete. Rebouls Beschreibung war so schwärmerisch gewesen und mit so vielen Pausen zum Fingerspitzenküssen durchsetzt, dass er sich auf eine herbe Enttäuschung oder zumindest auf eine leichte Desillusionierung gefasst gemacht hatte. Doch als er durch das zweiflügelige schmiedeeiserne Tor trat, das den Eingang schützte, blieb er
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