Der Coup von Marseille
wie angewurzelt stehen, überwäl tigt von dem ungewöhnlichen Anblick, der sich ihm bot. Was er vor sich sah, war ein riesiges Viereck, errichtet um einen In nenhof, vielleicht hundert Meter lang und fünfzig Meter breit. Gesäumt wurde der Innenhof von einer Reihe dreigeschossiger Bauten, deren Fassaden von einer Abfolge formvollendeter Rundbögen durchbrochen waren; sie führten zu einer Innengalerie, die sich über die gesamte Länge des Erdgeschosses erstreckte. Und in der Mitte des Hofes befand sich eine bezaubernde Kapelle mit Kuppeldach. Die Zeit hatte dem Stein eine sanfte Tönung zwischen verblichenem Rosa und Creme verliehen, und in der Morgensonne schien das ganze Areal zu strahlen.
Einige Jahre zuvor hatte die Charité eine neue Rolle als Heimstatt für Kunst- und Archäologiemuseen übernommen. In der Kapelle war eine dauerhafte Skulpturenausstellung untergebracht, und hier sollte Patrimonios Empfang stattfinden. Sam ging mitten durch ein Quartett mächtiger Säulen zum Eingang der Kapelle, wo er sich mit einer walkürenhaften Frau konfrontiert sah, die ein Klemmbrett in der Hand hielt.
»Hier ist geschlossen, Monsieur.« Mit dem erhobenen Zeige finger und kaum verhohlener Zufriedenheit verwehrte die Dame ihm den Zutritt. Sam schenkte ihr sein bezauberndstes Lächeln und zeigte ihr die Einladung, seine Dokumentenmappe und sogar sein Namensschild, die sie allesamt mit großem Misstrauen beäugte, bevor sie beiseitetrat, um ihm auch außerhalb der normalen Öffnungszeiten Einlass zu gewähren.
Im Innern der Kapelle eilte mit Getränkekisten und Gläsern bewaffnetes Personal hin und her und verlieh der Bar, die in einem Alkoven unter dem starren Blick einer Marmorstatue eingerichtet worden war, den letzten Schliff. Den hinteren Bereich der Kapelle nahmen drei lange Tische ein, auf denen kunstvoll weiße Tücher drapiert waren. Die Projektmodelle, eines pro Tisch, waren so angeordnet, dass sich Rebouls Wohnanlage in der Mitte befand, überragt von den Wolkenkratzern zu beiden Seiten. Die Modelle waren mit den Namen ihrer Hintermänner gekennzeichnet: Wapping Enterprises, London; Van Buren & Partners, New York; und Eiffel International, Paris.
Soweit Sam es beurteilen konnte, waren sie sorgfältig und richtig installiert worden. Er wappnete sich für eine erneute Begegnung mit dem Drachen an der Tür – zweifellos würde sie eine Leibesvisitation vornehmen für den Fall, dass er beschlossen haben sollte, eine der kleineren Skulpturen mitgehen zu lassen –, als er feststellte, dass er Gesellschaft bekommen hatte. Eine schlanke, dunkelhaarige Frau im schwarzen Hosenanzug hatte die Kapelle betreten, offenbar um die Modelle in Augenschein zu nehmen. Sie war attraktiv trotz der stromlinienförmigen Figur, die man durch eine jahrelange strikte Diät erwarb, und tadellos geschminkt, wie Sam rasch bemerkte. Ende dreißig, dem Aussehen nach zu urteilen, aber wer konnte da bei Französinnen schon sicher sein?
»Hallo! Haben Sie etwas gesehen, das Ihnen gefällt?«
Die Frau drehte sich um und sah Sam an, mit gerunzelter Stirn und einem eisigen Blick ihrer blauen Augen. »Und Sie sind …«
»Sam Levitt.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf sein Modell. »Ich bin für Van Buren tätig.« Er streckte die Hand aus und sie ihre, mit der Handfläche nach unten, sodass Sam drei Reaktionsmöglichkeiten blieben: sie zu schütteln, zu küssen oder die Maniküre zu bewundern.
»Caroline Dumas. Ich repräsentiere Eiffel. Wir sind also Konkurrenten.«
»Sieht ganz so aus. Ein Jammer.«
Madame Dumas neigte den Kopf und versuchte sich ein Lächeln abzuringen. Sam folgte ihrem Beispiel. Dann wandte sie sich von ihm ab, um die Inspektion der Modelle fortzusetzen.
Zurück im sonnenbeschienenen Geviert des Innenhofs fragte sich Sam, ob die Französinnen die Kunst der höflichen Abfuhr erlernten oder ob es sich dabei um ein Instinktverhalten handelte, das genetisch schon vorprogrammiert war. Kopfschüttelnd begab er sich auf die Suche nach einem Mittagessen.
8. Kapitel
E s war Cocktailstunde in der Charité, und die lange Schlange der geladenen Gäste erstreckte sich von der Tür der Kapelle bis zur Hälfte des Innenhofs. Die Warteschlange war entstanden, weil Patrimonio, der die Rolle des huldvollen Gastgebers genoss, beschlossen hatte, dem Beispiel der gekrönten Häupter und Staatsmänner zu folgen und jeden seiner Gäste höchstpersönlich zu begrüßen. Und so warteten diese in der Abendsonne mit einem
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