Der Coup von Marseille
unverhofft in die Freiheit entlassen wird, Geschmack an einem kurzweiligen Leben zu finden.
Da war sie ja schon; sie saß in einen weißen Bademantel gehüllt auf der Terrasse, nippte an einer großen Schale café au lait, während sie eine Ausgabe der International Herald Tribune in Augenschein nahm. Sam beugte sich hinunter und küsste sie auf den Scheitel, der noch nass von der Dusche war.
»Guten Morgen, mein Schatz. Wie fühlst du dich heute? Du hättest zum Schwimmen mitkommen sollen. Das Wasser war einmalig – ich kam mir vor wie ein junger Delfin.«
Elena hob den Blick und kniff ein Auge zu, um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen. »Ich habe zwei Längen geduscht.« Sie griff nach ihrer Sonnenbrille. »Verrat mir eines, Sam. Wieso bist du morgens immer so verdammt munter? «
Sam schenkte sich Kaffee ein, während er über die Antwort nachsann. »Ein reines Gewissen, das bekanntlich ein gutes Ruhekissen ist, und die Liebe einer Frau«, erwiderte er und nahm Platz.
Elena gab ein Knurren von sich. Sie war ein Morgenmuffel, während Sam – ärgerlicherweise – schon beim Aufstehen voller Tatendrang war. Früher hatte dieser Gegensatz zu einigen verfilmungsreifen Streitszenen beim Frühstück geführt. Doch heute übten die Sonne und die herrliche Umgebung ihren besänftigenden Einfluss aus, und die beiden saßen friedlich beim Kaffee zusammen.
Es war Elena, die schließlich das Schweigen brach. »Ich habe ganz vergessen, dir zu erzählen, dass Mimi ein paar Tage Urlaub genommen hat, um mir die Gegend zu zeigen. Ist das nicht fantastisch? Saint-Tropez, den Luberon, Aix, die ganze Palette rauf und runter. Und heute machen wir von Cassis aus einen Bootsausflug zu diesen kleinen ursprünglichen, fjordähnlichen Buchten mit den riesigen Felswänden, die aus dem Meer ragen.«
»Die calanques «, sagte Sam. »Mit dem Auto unerreichbar. Man gelangt nur mit einem Boot oder zu Fuß dorthin. Ein malerisches Fleckchen Erde für ein Picknick – vielleicht machen wir das, wenn ich meine Arbeit beendet habe.«
»Was steht heute auf dem Programm?«
Sam seufzte. Zunächst nichts Aufregendes. Ich muss ins Baureferat, ins Submissionsbüro, mich registrieren lassen, den Berechtigungsnachweis abholen, jeden anlächeln, solche Dinge eben. Danach möchte ich kurz überprüfen, ob unser Projektmodell so aufgebaut wurde wie geplant. Der Abend hingegen verspricht interessanter zu werden. Bei dem Empfang werden sich alle von ihrer Schokoladenseite zeigen.«
»Ich auch.«
»Vor allem du. Charmant und zurückhaltend – also komm nicht auf die Idee, auf dem Tisch zu tanzen.« Sam trank seinen Kaffee aus und stand auf. »Viel Spaß mit Mimi. Tu nichts, was ich nicht ebenfalls tun würde.«
Elena war leicht befremdet von seiner Unternehmerattitüde, die nicht recht zu seinem sonst eher jungenhaften Auftreten passen wollte. Es wurde Zeit, dass dieser Auftrag ernstere Formen annahm, dachte sie.
Das Baureferat befand sich in einem der imposanten alten Gebäude mit Blick auf den Hafen. Erst vom Sand gebleicht, dann auf Hochglanz poliert und rundum restauriert, um wieder im edlen Protz des neunzehnten Jahrhunderts zu erstrahlen, war es mit einem Büropersonal bestückt, das aus den schönsten Frauen von Marseille zu bestehen schien. Eine von ihnen geleitete Sam in einen abgeschirmten Bereich, in dem die Vorstandssekretärin das Allerheiligste in Form eines Eckbüros hütete.
Bevor Sam seinen ersten, sorgfältig vorbereiteten Satz auf Französisch beenden konnte, lächelte sie, hob Einhalt gebietend die Hand und sagte: »Vielleicht wäre es Ihnen lieber, wenn wir Englisch sprechen?«
»Englisch? Damit habe ich nicht gerechnet.«
»Wir sprechen hier alle Englisch. Das gehört zu den Kulturhauptstadt-Vorbereitungen. Sogar die Marseiller Taxifahrer lernen Englisch.« Sie lächelte abermals und zuckte die Schultern. »Behaupten sie zumindest.«
Sie bat Sam, ihr gegenüber Platz zu nehmen und sich auszu weisen, bevor sie ihm eine Dokumentenmappe und die For mulare überreichte, die er ausfüllen sollte. Als er das erste Blatt zur Hälfte beschrieben hatte, wurde er von der Duftwolke eines teuren Rasierwassers abgelenkt; ein Mann eilte rasch an ihm vorüber und auf das Eckbüro zu.
»Ist das …«
Die Sekretärin nickte. »Mein Chef, Monsieur Patrimonio. Er ist der Vorsitzende des Stadtplanungsausschusses, der über alle Bauanträge entscheidet.«
Das Summen der Telefonanlage auf dem Schreibtisch beendete die Unterhaltung, und
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