Der Dämon aus dem grünen See
E-Mail bekommen hatte, weil Tom angeblich schon auf dem Weg nach New York war. Haha.
Aber jetzt würde sich ihre Zurückhaltung wohl rächen. Linda hatte Marc schon immer angehimmelt, und wahrscheinlich freute sie sich einen Ast darüber, fast allein mit ihm zu sein.
Wo er schon mal hier ist, kann er doch ein paar Tage bleiben … Und vielleicht wäre es ganz schön, noch jemanden hier zu haben …
O nein, hoffentlich erzählte Linda ihm nichts von ihrem Hausgeist. Das wäre das perfekte Argument für Marc, warum er sie für den Rest des Urlaubs nicht mehr aus den Augen lassen durfte. Vielleicht war es doch nicht so klug gewesen, die beiden allein zu lassen … Marc brachte es bestimmt fertig, Linda zu beeinflussen, und sie würde ihn wahrscheinlich anbetteln, noch länger zu bleiben.
Besser, sie schwamm zurück und versuche, das Schlimmste zu verhindern – wenn es nicht schon zu spät war. Aber erst musste sie eine kleine Pause auf dem Felsen einlegen und kurz verschnaufen.
Sie hob den Kopf aus dem Wasser – und erschrak: Vor ihr lag, viel näher, als es hätte sein dürfen, das Steilufer. Am Felsen musste sie in ihrer Rage glatt vorbeigeschwommen sein. Sie begann, Wasser zu treten, drehte sich dabei um die eigene Achse und atmete unwillkürlich schneller: Der Sandstrand schien unendlich weit entfernt, und selbst der Felsen sah von hier richtig klein aus. Aber auch das Steilufer war noch mindestens zwei Schwimmbadbahnen entfernt – und auf einmal kamen ihr ihre Arme und Beine bleischwer vor. Ohne es zu merken, hatte sie sich völlig verausgabt.
Hilfe suchend blickte sie sich um – und schrie auf, als ihre Beine plötzlich bis zum Knie in eiskaltem Wasser steckten. Das musste eine dieser gefährlichen Unterströmungen sein. Hastig schwamm sie ein Stück weiter, doch das machte es nur noch schlimmer. Die eisige Wasserschicht reichte ihr jetzt bis zum Bauchnabel.
Dann spürte sie einen stechenden Schmerz in der linken Wade.
O nein, nicht jetzt noch einen Muskelkrampf, dachte sie panisch. Doch ihre müden Muskeln reagierten allergisch auf die Kälte: Ihr ganzes linkes Bein wurde steif und nutzlos – und tat dazu noch höllisch weh.
„Hilfe“, murmelte sie, eher überrascht als ernsthaft.
Man las immer wieder von Schwimmern, die in Seen ertranken, aber sie hatte das nie mit sich selbst in Verbindung gebracht. So etwas passierte doch nicht einfach so – und dann auch noch ihr?
Sie versuchte mühsam, sich mit nur einem Bein über Wasser zu halten, doch in der eisigen Strömung erlahmten ihre Kräfte schnell. Zudem kam das Steilufer immer näher, obwohl sie versuchte, sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. An den glatten, nassen Felsen würde sie keinen Halt finden. Mit schweren Armen paddelte sie in Richtung Strand, doch inzwischen hatte sie wirklich das Gefühl, Bleigewichte zögen sie abwärts. Nach kurzer Zeit ging sie zum ersten Mal unter. Beim Auftauchen verhedderte sie sich in der Leine ihres wasserdichten Beutels. Sie legte sich um ihren Hals. Es fühlte sich an, als drücke ihr jemand die Luft ab. Panik stieg in Cassie auf.
Wild strampelnd versuchte sie, die Schlaufe um ihren Arm abzustreifen. Dabei achtete sie nicht mehr darauf, in welche Richtung sie trieb. Der Schmerz in ihrem Bein machte es ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Und je näher sie der Steilwand kam, desto stärker wurde der Sog, der an ihr zerrte. Nur noch eine Schwimmbadlänge …
Als sie zum zweiten Mal unterging, schluckte sie Wasser, und von da an verlor sie völlig die Kontrolle. Ihre einzige Rettung bestand darin, sich völlig ruhig zu verhalten und sich auf der Oberfläche treiben zu lassen, das wusste sie. Aber sie konnte einfach nicht. Das Wasser hatte Gestalt angenommen. Es war wie eine furchtbare Macht, die sie verschlingen würde, wenn sie nicht dagegen ankämpfte.
Immer wieder kam sie keuchend an die Oberfläche, doch inzwischen hatte die Kälte ihren Körper fast völlig gelähmt, und sie schaffte es einfach nicht, in die Waagerechte zu kommen. Irgendetwas zog sie nach unten, in die eisige Tiefe. Unaufhaltsam.
Was für eine Ironie, schoss es ihr durch den Kopf. Da kommt Marc extra her, damit mir nichts passiert, und ich ertrinke genau deswegen.
Dann schloss sich eine eisige Hand um ihr Herz, und sie dachte gar nichts mehr.
4. KAPITEL
„So ist es gut, das ganze Wasser muss raus.“
Cassie hörte die Stimme wie durch Watte und registrierte auch die Worte nur als
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