Der Dämon aus dem grünen See
gibt Suchmeldung heraus
Da im Fall des wahrscheinlich ertrunkenen David Garland (12) noch immer keine Leiche gefunden wurde und sein Vater Gared Garland darauf beharrt, dass sein Sohn noch lebt, hat die Polizei eine offizielle Suchmeldung herausgegeben. Wie unbestätigte Quellen ergaben, könnte der 12-Jährige die Gelegenheit auch genutzt haben, um von zu Hause wegzulaufen. Nachbarn berichten von lautstarken Streitigkeiten, ein Mitschüler will von familiären Schwierigkeiten gehört haben. Wer David Garland gesehen hat oder sachdienliche Hinweise geben kann, melde sich bitte bei der örtlichen Polizeidienststelle.
Darunter gab es einen Link zu einem Foto, der mit dem Titel „David Garland“ versehen war. Cassie hielt den Atem an und klickte darauf. Schnell schlug sie die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien.
Der Junge auf dem Farbfoto war zwar erst zwölf, aber er sah ganz genau so aus wie David. Na ja, nicht ganz genau, aber alles, was David ausmachte, war da: die fast weißblonden Haare, die eisblauen Augen. Sogar die Sommersprossen auf der Nase und die gebräunte Haut. Das Gesicht sah weicher aus, kindlicher, aber das war ja normal. Nein, es gab keinen Zweifel: Das Foto zeigte David.
6. KAPITEL
Fassungslos starrte Cassie auf das Bild von dem Jungen, mit dem sie erst vor ein paar Stunden noch zusammen gewesen war.
Hatten also die Stimmen recht, die behaupteten, David hätte den Badeunfall genutzt, um von zu Hause wegzulaufen? Aber er konnte ja wohl kaum seit inzwischen elf Jahren in der Wildnis leben. Zumal ihn sein Vater ja überall gesucht hatte. Nein, dahinter musste noch eine andere Geschichte stecken.
Cassie druckte die Artikel und das Foto aus, dann suchte sie nach weiteren Hinweisen. Aber wie so oft bei Fällen, bei denen es nicht täglich neue Entwicklungen gibt, hatte die Zeitung nichts mehr darüber berichtet. Zudem war ihre Online-Zeit fast um. Die letzte halbe Minute nutzte sie für eine Recherche im Telefonbuch, doch ein Gared Garland war in Tahoe nicht zu finden. Auch bei der landesweiten Suche tauchte der Name nicht auf. Pia wusste sicher, was die Eltern gemacht hatten, nachdem sie die Hütte verkauft hatten. In einem so kleinen Nest wie Tahoe waren immer alle über alles informiert.
Aber erst mal wollte sie mit David über alles sprechen. Er hatte bestimmt seine Gründe für seine Schweigsamkeit – aber die galten hoffentlich nicht für sie. Wie sollte sie ihm vertrauen, wenn sie fast gar nichts über ihn wusste?
Mit ihrer Ausbeute in der Umhängetasche verließ sie das Internetcafé und schlenderte noch durch die Läden, bis es Zeit war, zum Auto zurückzukehren. Dort traf sie einen schweigsamen Marc und eine sehr unglückliche Linda.
„Hey, alles klar bei euch?“, fragte Cassie.
„Dein Verhalten ist nicht unbedingt hilfreich“, erwiderte Marc mürrisch.
„Keine Ahnung, was du meinst“, gab sie zurück. „Ich mache hier mit meiner Freundin Urlaub, und wir kommen bestens klar.“
Doch Linda drückte beschwörend ihren Arm, also beließ sie es dabei. Die Rückfahrt verlief sehr schweigsam, was Cassie nur recht war, denn so konnte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen. Was nur war Davids Geheimnis?
Nach einem weiteren ziemlich einsilbigen Abend verabschiedete sich Cassie wieder früh ins Bett. Diesmal kam Linda nicht mit, und nach einer Weile hörte man im Wohnzimmer das Klappern von Scrabblesteinen.
Na wunderbar.
An Schlaf war nicht zu denken, dafür war sie viel zu aufgedreht. Aber Lust, den beiden die ganze Nacht beim Spielen zuzuhören, hatte sie auch nicht.
David, dachte sie sehnsüchtig.
Komm zu mir, hörte sie als Antwort seine Stimme, so laut und klar und so verführerisch, als stünde er neben ihr.
Erschrocken riss sie die Augen auf. Träumte sie schon wieder?
Im Zimmer war es dunkel, doch unter der Tür zum Wohnzimmer schien Licht hindurch. Offenbar waren die beiden immer noch in ihr Spiel vertieft.
Umso besser. Cassies Blick fiel auf das große Panoramafenster, dessen Flügel sich öffnen ließen. Es ging auf die Lichtung hinaus und reichte wo weit nach unten, dass sie problemlos hinausklettern konnte.
Wunderbar. Da war sie mit Eltern gesegnet, die ihr in ihrer Teenagerzeit fast alle Freiheiten gelassen hatten, solange sie keine Drogen nahm und keinen ungeschützten Sex hatte. Und musste sich mit fast zwanzig durchs Fenster rausschleichen, wenn sie im Dunkeln einen Spaziergang machen wollte, weil ihr Stiefbruder einen übertriebenen
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