Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3
von »zeitnah« offenbar sehr dehnbar; sie reicht von »jüngst« bis »bald«. Gerade im Feuilleton wird »zeitnah« gern anstelle von »aktuell« gebraucht. Da ist von »zeitnahen Themen« die Rede oder von »zeitnaher Literatur«. Damit sind nicht die Themen und Bücher der nahen Zukunft gemeint, sondern die der Gegenwart.
Manchen ist dieses Wort schon so lieb geworden, dass sie ihm eigene Regeln andichten, zum Beispiel bei der Steigerung: »Der zeitnaheste Termin, den ich Ihnen anbieten kann, ist in vier Wochen«, erfuhr ich von der Sprechstundenhilfe meines Zahnarztes. Warum nicht einfach »der nächste« oder »der früheste«?
Ein gravierendes Missverständnis besteht auch hinsichtlich des unscheinbaren Wortes »zunächst«. Wie oft liest man in Zeitungsartikeln »Über die Brandursache war zunächst nichts bekannt« oder »Vom Täter fehlte zunächst jede Spur«. Ich wundere mich dann immer darüber, dass der Artikel die Auflösung schuldig bleibt. Denn wenn ich ein »zunächst« lese, erwarte ich ein »dann«. So wie hier zum Beispiel: »Zunächst sagte keiner ein Wort, dann fing sie leise an zu sprechen.« Entsprechend also: »Vom Täter fehlte zunächst jede Spur, nach intensiver Suche fand ihn die Polizei dann im Nebenzimmer.«
Das Wort »zunächst« ist gleichbedeutend mit »vorerst«, »fürs Erste«. Wenn man schreiben will, dass irgendetwas noch nicht bekannt ist, dann ist »bislang« oder »bisher« die richtige Wahl: »Über die Ursache ist bislang nichts bekannt.«
Sprache und Zeit haben eines gemein: Sie sind schwer zu begreifen, und sie geben uns immer wieder neue Rätsel auf.
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Am Anfang war das Wort. Und vor das Wort drängte sich – die Vorsilbe! Seitdem ist die Sprache nicht einfacher geworden, dafür aber reicher. In der Regel stellen Vorsilben nämlich eine Bereicherung der Sprache dar. In einigen besonders vornehmen Fällen sind sie sogar eine Anbereicherung.
Seit dem Start ist Henry unleidlich. »Was ist denn los?«, frage ich. »Ich habe Blähungen!«, stöhnt mein Freund. »Reiß dich bloß zusammen«, sage ich, »sonst löst du unter den Passagieren eine Panik aus!« – »Ich hasse dich«, erwidert Henry. »Ich weiß«, sage ich, »du hättest eben auf das zweite Sandwich verzichten sollen.« In diesem Moment beugt sich die Stewardess, die mit dem Einsammeln des Plastikgeschirrs beschäftigt ist, zu uns herab und fragt: »Könnten Sie mir das Tablett wohl eben anreichen?« Henry lächelt gequält und sagt: »Würde es Ihnen unter Umständen ge-nügen, wenn wir Ihnen das Tablett einfach reichen?« Die Stewardess setzt den berühmten »Äh-wie?«-Blick auf, und um uns allen weitere Peinlichkeiten zu ersparen, empfehle ich ihr, den Herrn neben mir einfach für den Rest des Fluges zu ignorieren.
»Was mischst du dich in meine Unterhaltungen mit blonden Frauen?«, entrüstet sich Henry, kaum dass die Stewardess außer Hörweite ist, »hast du nichts zu lesen dabei?« – »Ich dachte, du hast Blähungen, da wollte ich die junge Dame nur so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone bugsieren ...« – »Die litt ja selbst an Blähungen, wie deutlich zu hören war«, erwidert Henry. » Könnten Sie mir das Tablett wohl anreichen? Das ist Silbenschaumschlägerei!« – »Vielleicht dachte sie an ›anreichern‹ oder etwasÄhnliches.« Henry sieht mich mitleidig an: »Oder sie war vorher im Kloster, wo sie alles über das Anreichen des Kelches beim Abendmahl gelernt hat. Und weil sie es nicht erwarten konnte, in den Himmel zu kommen, wurde sie Stewardess.« – »Achtung, Henry, dein Niveau droht wieder mal abzusinken!«, ermahne ich ihn. Henry piekst mir in die Seite: »Da, jetzt machst du es schon selbst! Absinken hast du gesagt. Das ist gequirlter Unfug. Es gibt weder absinken noch aufsinken!« – »Ich wollte erst absacken sagen und habe mich dann im letzten Moment für sinken entschieden, und so wurde absinken daraus«, versuche ich mich zu verteidigen. » Absenken wird auch gern gebraucht«, fällt Henry ein, »vor allem im Zusammenhang mit Konstruktionsfehlern: ›Der Boden der Kongresshalle hat sich nachträglich abgesenkt.‹ Ein Bedeutungsunterschied zwischen senken und absenken lässt sich nicht nachweisen, daher kann man auf das ›ab‹ getrost verzichten.«
Meine Großmutter hatte es früher beim Scrabble-Spiel meisterlich verstanden, Wörter durch Vorsilben zu verlängern und damit hohe Punktzahlen zu
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