Der Deal
Entscheidung zu treffen. Strout hatte sich in voller Größe hinter seinem Schreibtisch aufgerichtet. »Da ich sehe, daß zweimal auf dieses Opfer eingestochen und fünfmal auf das Opfer geschossen wurde«, sagte er mit seiner sanftesten Stimme, »bin ich ganz nahe dran, und das können Sie so drucken, wirklich ganz nahe dran, einen Selbstmord auszuschließen.«
Strout würde nichts übereilen und einen Fehler machen. Nach elf Jahren als Leichenbeschauer galt sein Urteil, wenn er es erst mal verkündet hatte, als bare Münze.
Jetzt saßen Carl Griffin und Vince Giometti im klimatisierten Wartezimmer des Leichenschauhauses von San Francisco. Es war nicht gerade der Traum eines Innenarchitekten. Das lange gelbe Sofa war niedrig, die Werbeposter an den Wänden waren häßlich und hingen zu hoch. Die einzige echte Pflanze an einem Fenster rechts vom Sofa war nicht grüner oder hübscher als die drei künstlichen Blumenarrangements, von denen je eine den Tisch in der Mitte (zu klein für das Sofa), den blauen Kunststofftisch an der Seite und den narbigen Mahagoni-Serviertisch zierten.
Griffin und Giometti saßen auf den entgegengesetzten Seiten des Sofas. Zwischen ihnen, in einer fast neuen Mappe aus Karton, lag die Akte über den Cochran-Fall. Giometti, der gerade Vater geworden war, hatte eben etwas gesagt, das Griffin explodieren ließ.
»Muß ich mir das direkt nach dem Mittagessen anhören? Glauben Sie, daß mich das interessiert? Meinen Sie, es interessiert jemanden, wie der Stuhlgang Ihres Babys aussieht, ob er hart oder weich oder flüssig ist, oder ob der verdammte Mais verdaut wird?« Griffin sprang auf, er konnte nicht stillsitzen. »Herrje!«
»Wenn Sie ein Kind hätten, wüßten Sie, wie wichtig das ist.«
»Was meinen Sie, warum ich nie Kinder hatte? Denken Sie, daß es nur Pech war? Sie glauben es vielleicht nicht, aber ich habe einmal ernsthaft darüber nachgedacht, und wissen Sie, was die Sache für mich entschieden hat?« Er kniete sich auf einem Bein vor seinen neuen Partner hin. »Ich habe mir folgende Frage gestellt. Ich sagte mir: Denk mal darüber nach, was es bedeutet, ein Kind zu haben, und was ist das erste, was dir dabei einfällt?«
Giometti wollte gerade antworten, aber Griffin hob eine Hand hoch.
»Nein, lassen Sie mich ausreden. Das erste, woran ich dachte, war Scheiße. Berge davon, jeden Tag, ein paar Jahre lang. Dann stellte ich mir noch eine Frage: Gibt es irgend etwas, das ich an Scheiße mag? Ich meine, ihren Geruch, ihre Struktur, verschiedene Farbtöne? Sehe ich sie, wie die Eskimos Schnee sehen, mit Nuancen und hundert verschiedenen Bezeichnungen? Nein, Scheiße ist Scheiße. Ich bin daran nicht im geringsten interessiert – nicht an der Ihres Kindes, nicht an meiner, nicht an irgendeiner, in Ordnung?« Er stand auf. »Könnten wir also bitte ab heute auf die tägliche Analyse des Stuhlgangs verzichten?«
Er wandte sich ab und ging zum Fenster hinüber, atmete tief durch. Er rieb ein Blatt einer Grünpflanze zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Es ist etwas Natürliches, Carl«, sagte Giometti. »Sie sollten sich deswegen nicht so aufregen.«
Griffin dachte, er würde einen Daumenabdruck auf dem Blatt hinterlassen, so fest drückte er es.
Er hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Strout schüttelte Vince die Hand und kam nun zu ihm herüber. So hatte er sich das nicht gerade vorgestellt. Er hätte es vorgezogen, ruhig und sachlich zu sein, aber jetzt würde seine Laune vielleicht Strouts Entscheidung beeinflussen, so gut kannte er Strout. Na ja, wenn er es richtig anstellen würde, könnte es sich zu seinem Vorteil entwickeln.
»Also, Jungs«, sagte Strout, nachdem er sich auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne, den er an den zu kurzen Tisch herangezogen hatte, gesetzt hatte, »was haben Sie denn hier?«
Giometti öffnete die Mappe und nahm die Akte heraus. Griffin dachte, es wäre klüger, seinen Partner reden zu lassen, bis er sich beruhigt hatte, und außerdem eine gute Erfahrung für den Jungen. Er schlenderte also mit den Händen in den Taschen zum Fenster zurück.
»Sir, der Verstorbene hatte Schwierigkeiten bei der Arbeit. Mit dem Job ging es zu Ende.«
»Gibt es einen medizinischen Nachweis für Depressionen?«
»Nein, Sir, nicht offiziell.«
»Inoffiziell?«
»Die Familie – nicht seine Ehefrau, sondern seine Familienangehörigen.«
Griffin sah, wie sich Strouts Gesicht langsam verzog. »Sie meinen, mit denen er aufgewachsen ist? Wir nennen das die
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