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Der Delta-Stern

Der Delta-Stern

Titel: Der Delta-Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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schimmerte, wurde er sofort so nervös, daß seine Hände heftig zu zittern begannen. Um sie wieder ruhig zu kriegen, steckte er sich eine Zigarette an, die dreizehnte des Tages.
    Also gut, wenn er nicht an Lungenkrebs sterben würde, wenn die Midlife-Crisis doch nicht das Ende war und wenn er dieses Gefühl von Angst und Verzweiflung, das mehr oder weniger seine sämtlichen wachen Momente überschattete, wider Erwarten überleben sollte, müßte er sich allmählich doch wohl mal den lichteren Seiten seines Daseins zuwenden, sagte er sich. Sein jüngster Sohn Alec war inzwischen fast achtzehn, was bedeutete, daß er die Kindergeldzahlungen für ihn bald einstellen konnte. Sein älterer Sohn Frank (er hätte seinen Jungen nie das Handicap eines spanischen Vornamens wie Mario in Verbindung mit dem Nachnamen Villalobos zugemutet) war an der San Diego State University gut untergebracht, wo er im Hauptfach Surfhäschen studierte, was nur dadurch möglich war, daß sein Vater sich allmonatlich zweihundert Dollar aus den Rippen schnitt. Über diesen Zuschuß ärgerte sich der Detective allerdings lange nicht so wie über die Kindergeldzahlung für Alec, zu der ihn das Gericht verdonnert hatte. Auf jeden Fall aber würde er diese vom Gericht verfügten Zahlungen ja bald einstellen können, und dann konnte er Alec direkt Geld schicken, ganz aus freien Stücken. Er würde immer noch Schulden haben wie ein Weltmeister, aber zumindest hätte er sie freiwillig, und das war der feine Unterschied. Ein Mann wie Mario Villalobos mußte sich zumindest vormachen können, über sein Geschick selbst bestimmen zu dürfen, auch wenn er auf der anderen Seite lange genug Cop war, um zu wissen, daß in der Welt, in der er zu Hause war, die Launen des Schicksals sicherlich eher vorherbestimmt als irgendeiner Art von freiem Willen unterworfen sind. So jedenfalls stellt es sich in der emotional immer äußerst labilen Welt eines Polizisten dar, in der nichts so ist, wie es zu sein scheint.
    Wenn er nur was gegen das Zittern seiner eigenen Hände unternehmen könnte. Das war was völlig Neues in seinem Leben. Er hatte seit Jahren beobachtet, daß Maxie Steiners Hände beinahe den ganzen Vormittag hindurch zitterten. Er fühlte sich, als habe er jeden Schwung verloren, und das wiederum quälte ihn um so mehr, als er auf gar keinen Fall so aussehen wollte wie Runzel-Ronald mit seinem Todesblick.
    Als Chip und Melody schließlich angekommen waren, glaubte Mario es an ihren strahlenden Augen ablesen zu können: eine Romanze bahnte sich an. Oder war's doch nur ihre übliche Gier nach Blut? Es war so rührend, daß er am liebsten sofort einen doppelten Wodka getrunken hätte.
    »Schön, daß ihr's doch noch geschafft habt«, sagte Mario Villalobos zu den Brunchern.
    »Tut mir schrecklich leid, Mario«, entschuldigte sich Chip Muirfield, »aber wir sind leider nicht so rasch bedient worden, wie wir …«
    »Okay, okay«, sagte der Detective, der sich, wenn er Chip Muirfields Surferfigur und sein glattes Gesicht nur anschaute, sofort an jedes seiner zweiundvierzig Jahre einzeln erinnert fühlte.
    Mario Villalobos war in der Handballmannschaft des Police Department mal ein guter Spieler gewesen, aber inzwischen war er etwas rund um die Hüften. Er hatte bei seinen Unterhosen auf Größe 35 umsteigen müssen. Er wog heute über fünfundachtzig Kilo, und wenn er früher behauptet hatte, er sei annähernd einszweiundachtzig groß, so konnte er jetzt kaum noch von einseinundachtzig reden. Er verlor an Größe und gewann an Breite. Sein Fahrgestell war nicht stabil genug, um neunzig Kilo mit sich herumschleppen zu können. Wie würde er in weiteren fünf Jahren aussehen? Konnte es vielleicht sogar noch schlimmer werden als heute, mitten im Strudel einer Midlife-Crisis von Weltklasseformat?
    Während sich die Schulterhalfterkids gleich auf ihre Arbeit stürzten, sah er sich ringsum die Massen von Leichen an, die darauf warteten, aufgesägt, aufgeschnitten, in Stücke geschnitten und ausgeweidet zu werden. Es gab ganze Regale voller Leichen in den »Warteräumen«, unidentifizierte Damen und Herren Jedermann, die sich, tiefgekühlt, monatelang aufbewahren ließen. Es gab haufenweise Leichen im »Faulraum«, zerfallene Körper, die hier unter Deckenventilatoren, die den nahezu unerträglichen Gestank nie richtig wegkriegten, noch weiter vor sich hin faulten. Es gab Leichen, die auf Jutematten lagen, weil sie nirgendwo mehr untergebracht werden konnten, und in

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