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Der Delta-Stern

Der Delta-Stern

Titel: Der Delta-Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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einem Fall lagen zwei Leichen auf einer Matte: ein verschrumpeltes Rentnerehepaar, fünfzig Jahre verheiratet, das durch einen verstopften Ofen zu Tode gekommen war und in derselben Löffelstellung nebeneinander lag, in der es seine kalten und klammen Nächte im Altersheim verbracht hatte. Er fragte sich, wie viele von denen hier eine Midlife-Crisis von Weltklasseformat überstanden haben mochten. Oder ob's überhaupt mal jemand geschafft hatte. Oder war das, was er gerade mitmachte, schlimmer als eine Midlife-Crisis?
    Dann sah er, wie sich sein Gesicht in der Fensterscheibe spiegelte. Auf dem trüben Spiegelbild hatte er Augen wie der Rausgeschossene Sittencop. Augen wie Einschußlöcher. Er fing gerade an, sich unerklärlich zu ängstigen, als Chip Muirfield mit seinem breitesten Surfergrinsen zu ihm sagte: »Willst du nicht zugucken, wie unsere verarztet wird?«
    »Nee, mach nur weiter und amüsier dich«, sagte Mario Villalobos, »aber geh nicht zu dicht ran.«
    Die Behörde des Coroners im Los Angeles County war kürzlich Gegenstand einer Disziplinaruntersuchung gewesen und wegen eines ziemlichen Überhangs an Leichen heftig kritisiert worden. Das hatte zur Folge, daß die Pathologen ihre Obduktionen dieser Tage mit einem Höchstmaß an Aufwand durchführten. Die letzte Leichenöffnung, an der Mario Villalobos dienstlich teilgenommen hatte, war an einem Mordopfer vorgenommen worden, das an einem Kopfschuß gestorben war. Früher mußte ein Cop in solchen Fällen gerade ein paar Zigarettenlängen warten, bis der Pathologe die Kugel aus dem Kopf der Leiche herausgepult hatte. Heute mußten die Cops regelmäßig mindestens zwei Stunden herumlungern. Die Pathologen, die Kritik an ihrer Tätigkeit überhaupt nicht vertragen konnten, machten aus ihrer Arbeit momentan wahrhaftig eine Show. Sie fuchtelten mit mehr blitzendem Stahl in der Gegend herum als die drei Musketiere persönlich, sagte jeder, der sich ein Urteil bilden konnte. Sogar bei einem Kopfschuß öffneten sie das betreffende Opfer von Kopf bis Fuß. Jeder Tote wurde in diesen Tagen förmlich ausgehöhlt, wie ein Baumstamm, aus dem man einen Kajak herstellen wollte, was den Schulterhalfterkids allerdings überhaupt nicht mißfiel.
    Es war erst die dritte Obduktion, die Chip Muirfield als amtlicher Zeuge miterlebte. Er genoß jede einzelne mehr als die vorhergehende. Mario Villalobos überlegte schon, ob Chip nächstens vielleicht sogar noch einen Freizeitjob auf dem Forest-Lawn-Friedhof annehmen würde, wenn das mit seiner Leidenschaft für Leichen so weiterginge. Der Pathologe und sein Obduktionsgehilfe waren heute allerdings auf Teufel komm raus bemüht, diese eine Leiche hier so rechtzeitig hinter sich zu bringen, daß sie sich noch die Fernsehshow Days of Our Lives ansehen konnten.
    Die ehemalige Western-Avenue-Prostituierte, die, was Chip Muirfield betraf, so nett gewesen war, nicht im Bereich der Hollywood Division zu sterben, wo sie gearbeitet hatte, sondern in dem der Rampart Division, wo sie gewohnt hatte, war durch ihren Sturz vom Dach nicht allzu grausam verstümmelt worden, wenigstens nicht im Gesicht. Mario Villalobos erinnerte sich an ein frühes Polizeifoto dieses Gesichts, das gerade jetzt wie eine Grapefruit geschält wurde. Eine Naturblondine, hübsch und zierlich; er fragte sich, ob sie, vielleicht unter dem Einfluß von Drogen, wirklich selbst auf die Idee gekommen sein konnte, sich eine Tätowierung verpassen zu lassen, die den Mann im Mond darstellte. Diese Tätowierung befand sich an der Innenseite ihres linken Oberschenkels, so hoch, daß die Anfertigung an Ort und Stelle möglicherweise eine ziemlich schmerzhafte Sache für sie gewesen war. Als Leiche sah sie aus wie fünfunddreißig. Tatsächlich war sie zweiundzwanzig.
    Mario Villalobos gehörte zu den Morddetectives, die gerade im Verlauf ihrer Midlife-Crisis gelegentlich von einer unerklärlichen, eigentlich ganz unpolizeilichen Sentimentalität heimgesucht werden. Das heißt, daß Mario Villalobos sich genauso wie sein alter Partner Maxie Steiner immer häufiger zu ärgern pflegte, wenn Leichen unnötig verstümmelt wurden, beispielsweise von jungen Skalpellhelden, die im Hinblick auf tote Körper oft von erstaunlich brutaler Rücksichtslosigkeit sind, während Detectives, umgekehrt, eher eine Art von fürsorglichem Besitzanspruch geltend machen.
    Was Mario Villalobos dann allerdings entging, als er sich in den Autopsieräumen umschaute und darüber nachdachte, wie gefährlich

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