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Der Delta-Stern

Der Delta-Stern

Titel: Der Delta-Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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das Schicksal mit ihm vorhatte. Der kleine Junge mit den wimpernlosen Augen starrte die Beamten an, unerschrocken.
    »Was haben sie mit dem Mann gemacht?« sagte Dolly. Dabei trat auch sie auf ihn zu und faßte ihn vorsichtig am rechten Arm. Jeder Zentimeter Haut zwischen seiner Kehle und seinem Bauchnabel war kreuz und quer mit verschorften und verkrusteten Wunden bedeckt, die bereits abheilten, und das Ganze sah aus, als habe man seinen ganzen Körper mit arabischen Zeichen beschrieben.
    »Sie benutzen scharfe Messer«, sagte Runzel-Ronald. »Sie passen haargenau auf, daß sie den Leuten dabei nicht in die Arterien schneiden. Die Kerle sollen ja weiterarbeiten und Geld verdienen, damit sie ihnen dann ihren Schutzgeldanteil geben können.«
    »Wofür denn Schutzgeldanteil?« schrie Jane Wayne.
    »Dafür, daß sie existieren dürfen, verdammt!« Runzel-Ronald sah nervös auf die Uhr und zählte die Minuten.
    »Darüber mach ich 'n Bericht für die Asiatische Sonderkommission«, sagte Dolly mit zitternder Stimme. »Die Leute müssen begreifen, daß sie gefälligst zur Polizei gehen sollen, wenn sie Schutz brauchen, und …«
    »Was liegt denn da?« fragte Jane Wayne plötzlich.
    Jane Wayne, die fast so groß war wie Dilford, hatte in den dreckigen kleinen Raum geguckt, aus dem immer noch das Jammern zu hören war.
    »Was liegt denn da?« sagte Dilford, und Dolly und der verrunzelte Cop traten vorsichtig über die Türschwelle.
    Das Jammern kam von einer Frau, die auf den Knien lag. Sie war vielleicht dreißig Jahre alt, also nicht so alterslos wie der Mann. Aber sie hatte denselben Blick wie er. Einen Blick, in dem zu lesen stand: Was immer ihr mir auch antut, es kann sicher nicht schlimmer sein als das, was man mir schon angetan hat. Und ich erwarte auf gar keinen Fall, daß es was Besseres sein könnte. Kurz gesagt, sie hatte den Blick der Boat-People.
    »Das ist ne Babypuppe«, sagte Dolly, die sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, um über Jane Waynes breite Schultern schauen zu können.
    »Das ist 'n Baby!« sagte Dilford. »Glaub ich wenigstens.«
    Genau konnte man es nicht erkennen. Es lag nackt auf einer Schlafmatte aus Stroh. An den Fenstern hingen muffige Samtvorhänge aus längst vergangenen Zeiten, die die Vormieter nur deshalb nicht geklaut hatten, weil sie schon ausgefranst und fleckig gewesen waren, als hier, vor den Boat-People, die illegalen Latinos gehaust hatten. Es war dunkel in dem Raum, und das Baby rührte sich nicht. Die Frau kniete neben dem nackten Baby und sang ihr jammervolles Klagelied.
    »Ist das Baby krank?« fragte Dolly.
    »Ist das Baby tot?« fragte Dilford.
    »Das Baby sieht so merkwürdig aus«, sagte Jane Wayne. »Es ist völlig … deformiert.«
    Und die große junge Frau warf einen raschen Blick durch das Dunkel in die schmutzige Zimmerecke, in der das Baby lag. Dann ging sie vorsichtig die paar Schritte durch den Raum, vorbei an der leise jammernden Frau, und stand schließlich direkt über dem deformierten Baby.
    Es war allerdings nicht nur deformiert.
    Jane Wayne stöhnte laut auf, als sie den schimmernden Knochensplitter sah, der aus der Schulter hervortrat. Das linke Bein war abgeknickt wie ein Taschenmesser und berührte fast die Hüfte des Babys, an einer Stelle, wo die Haut nicht von Knochensplittern aufgerissen worden war. Aber Knochensplitter hatten die Haut fast bis zum Ellenbogen aufgerissen. Der linke Arm des Kindes war mitten durchgebrochen, und die karmesinroten Splitter bohrten sich durch das Fleisch. Man sah nur sehr wenig Blut.
    Die Mutter des Babys hatte gar nicht den Versuch unternommen, die Leiche wieder in die Form zu bringen, die das Kind mal gehabt hatte, als es unverletzt gewesen war. Sie war lediglich neben dem verstümmelten nackten Kind auf die Knie gesunken und jammerte vor sich hin.
    Jane Wayne und Runzel-Ronald waren heilfroh, daß Dilford und Dolly den Funkruf ebenfalls gehört hatten und ihnen zu Hilfe gekommen waren. Sie blieben auch nur noch so lange da, bis sie die Detectives und die zuständige Asiatische Sonderkommission des Police Departments alarmiert hatten und ein Dolmetscher eingetroffen war, ein vietnamesischer, wie sich herausstellte.
    So kriegten sie immerhin auch noch mit, wer das Baby getötet hatte. Es war der alterslos wirkende Mann, der Vater des Babys, der, wie der Übersetzer erklärte, erst seit knapp zwei Jahren in Amerika lebte. Ein Mann, der erlebt hatte, wie seine Eltern, zwei Söhne und seine frühere Frau im Krieg

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