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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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eigentlich Hasans Gedanke, nicht meiner,
ich hatte ihn mir zu eigen gemacht und wollte ihn nun überreden, den Gedanken
in die Tat umzusetzen. Gegenüber Kara-Zaim hatte ich ihn ausgesprochen, und
ich hatte mich zurückgezogen, als er nicht darauf einging, aber mir scheint,
aufgetaucht war er schon früher, in dem Augenblick, als ich das Gesicht des
Muftis erlöschen sah, als mir die Sinnlosigkeit all dessen, was ich tat und
sprach, klar wurde. Man mußte Harun herausreißen, mußte seine Wächter
bestechen, damit er fliehen konnte, mußte ihn in ein anderes Land schicken,
damit er ihnen nie mehr zu Gesicht käme. Nur so konnte er den Festungskellern
entrinnen – mein schändliches Fratzenschneiden konnte ihm nicht helfen. Mit
Hasan und Ishak könnte man alles erreichen. Mit Ishak könnte man alles
erreichen. Vielleicht wußte Hasan, wo Ishak sich versteckt hielt, Ishak würde
mitmachen, bestimmt. Ishak war nicht krank am Erinnern, wie Kara-Zaim, die
Bilder von einst hielten ihn nicht auf.
    Mut fand ich bei dem Gedanken an
diesen Aufrührer, mich packte der unüberwindliche Drang, mich zu rühren, etwas
zu unternehmen, ich spürte eine gesunde Unruhe und Erregung: Alles kann man
schaffen, alles liegt in Reichweite, der Mensch darf sich nur nicht ergeben.
Schwer ist es, solange man sich nicht entschlossen hat, alle Hindernisse
erscheinen da unüberwindlich, alle Schwierigkeiten unbeherrschbar. Hat man aber
den Unentschlossenen in sich abgetan, hat man den eigenen Kleinmut besiegt, so
öffnen sich ungeahnte Wege, die Welt ist nicht mehr eingeengt und nicht mehr
voller Drohung. Kühne Unternehmungen ersann ich mir, entdeckte mehr als eine
Möglichkeit, wahre Kühnheit zu beweisen, bereitete Listen vor, denen selbst
größte Wachsamkeit nicht würde beikommen können, aufgeregt und voller
Tatendrang, und dies um so mehr, je bestimmter ich in der Tiefe des Herzens, in
den schwer zugänglichen Windungen des Gehirns spürte, daß all das nichts als
leere Träumerei sei. Nein, nicht mit klaren Sinnen dachte ich daran, nährte
nicht heuchlerisch zwei entgegengesetzte Regungen in der Brust. Mein Denken
blieb ungeteilt, und aufrichtig mühte ich mich ab, den besten Weg zur Befreiung
meines Bruders zu finden. Und, ich wiederhole es, ich tat es um so
aufrichtiger, um so lebhafter, als sich doch irgendwo in meinem Innern, wie ein
wirres Flüstern aus dem Dunkel, wie eine Gewißheit, über die man nicht spricht
und nicht nachdenkt, die aber gegenwärtig ist, immer mehr die Überzeugung
festigte, das Unternehmen könne nicht gelingen. Und nach Ishak rief ich, weil er unerreichbar blieb. Ich
konnte ihn mit aller Kraft herbeisehnen, deren meine Seele fähig war, ohne
Lüge, weil sich mein Wunsch nicht erfüllen ließ. Ein verborgener Lebenstrieb,
der mich schützte, ohne daß mein bewußter Wille daran Anteil hatte, erlaubte
mir großzügig meinen schönen Edelmut, schränkte ihn nicht ein; denn er wußte,
daß mir aus diesem Edelmut keine Gefahr erwachsen, daß er nicht zur Tat werden
konnte. Immerhin half er mir, mich für die Scham zu rächen, mit der ich mich
beim Mufti voll beladen hatte.
    Sollte dies jemandem merkwürdig oder
gar unglaubhaft vorkommen, so könnte ich darauf nur erwidern, daß Wahrheiten
manchmal höchst merkwürdig sind, wir reden uns jedoch ein, sie bestünden gar
nicht, weil wir uns ihrer schämen wie aussätziger Kinder, obgleich sie darum
nicht weniger lebendig und nicht weniger wahrhaft sind. Gewöhnlich verschönern
wir unsere Gedanken und verstecken die Schlangen, die in uns züngeln. Gibt es
sie nicht mehr, bloß weil wir sie verstecken? Ich verschönere nichts und
verstecke nichts, ich spreche wie vor Gott. Und auch das möchte ich sagen: daß
ich weder ein schlechter noch ein ganz wunderlicher Mensch bin, sondern ein
gewöhnlicher, noch gewöhnlicher vielleicht, als ich es wünschte, gerade so
einer, wie die meisten Menschen.
    Ein wohlmeinender Leser könnte
einwenden: Du überziehst die Geschichte, du klügelst zuviel. Ich antworte ihm
sofort: Das weiß ich. Ich lege einen einzigen armen Gedanken breit auseinander,
schüttle ihn wie einen leeren Tonkrug, der keinen Tropfen mehr hergeben kann.
Aber ich tue das absichtlich, um den Bericht über das hinauszuschieben, was
noch jetzt an mir rüttelt, einige Monate nach alledem. Freilich, das Zaudern
hilft nichts. Umgehen kann ich es nicht, und abbrechen will ich nicht.
    Auch dies also muß ich sagen. Ich
traf den Nachtwächter zu Hause an, er war längst

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