Der deutsche Goldrausch
arbeitet weiter für die Interhotel-Gruppe. Doch die Intershops haben keine Geschäftsgrundlage mehr – Westwaren gibt es jetzt überall zu kaufen.
Die Hotelkette will ein Kasino in Halle eröffnen und schickt Silberberg deshalb 1990 in den Westen. Sie soll sämtliche Kasinos studieren und dort lernen, wie man ein Kasino aufzieht. Umsonst. Das Kasino wird nicht eröffnet, neue Stellen bekommt Silberberg auch nicht mehr angeboten, die Zukunft des Interhotels ist ungewiss. Ende 1990 sitzt sie, trotz ihrer Erfahrung, auf dem Trockenen. Sie nimmt schließlich das Angebot an, eine Assistentin der Treuhanddirektoren aus Westdeutschland zu werden. Das scheint zumindest ein sicherer Job zu sein. Anfangs denkt Silberberg über die Treuhänder aus dem Westen, die jenseits der Fünfzig sind: »Das ist dritte Garnitur, die jetzt hier rüberkommt. Die anderen haben ja einen tollen Job, die werden garantiert nicht nach Halle kommen. Die wollen jetzt eigentlich nur absahnen.«
Silberberg hilft, die Arbeit in den neuen Büros zu organisieren. Die Treuhand lässt sich auf der westlichen Seite der Saale nieder, in Halle-Neustadt oder »Ha-Neu«, wie die Hallenser die Neubausiedlung nennen. Hier bezieht die Filiale zwei Stockwerke in einem Plattenbau. Ha-Neu wird von fünf Hochhäusern dominiert, die auf engstem Raum parallel zueinander stehen. »Scheiben« werden diese dreißigstöckigen Häuser genannt. Zu DDR-Zeiten waren hier unter anderem ausländische Studenten untergebracht. Die Treuhand-Niederlassung zieht in die »Scheibe D«.
Ha-Neu war der Stolz der SED in Halle. Das Neubaugebiet wurde in den sechziger Jahren als »eine Stadt unserer Tage« vor allem für die vielen Zehntausend Arbeiter entworfen, die ein paar Straßenbahnkilometer weiter südöstlich in den Chemiewerken von Leuna arbeiteten. Die Neubauwohnungen boten Anfangs unvergleichlich viel Komfort: fließend Wasser und Zentralheizung. Viele Altbauten in der Innenstadt hatten das nicht zu bieten. Fast 100 000 Menschen lebten Ende der achtziger Jahre in Halle.
Nach der Wende geht es mit Ha-Neu rapide bergab. In Leuna werden 15 000 Arbeiter für immer nach Hause geschickt. Viele Bewohner von Ha-Neu lassen daraufhin ihre Wohnungen einfach zurück, reisen in den Westen aus oder suchen sich andernorts eine Wohnung. Die lokalen Zeitungen berichten nun, da es keine Zensur mehr gibt, vom weit verbreiteten Alkoholismus in Ha-Neu, von Selbstmorden, Mordfällen, Kindesmissbrauch, rechtsradikaler Gewalt. Schmugglerbanden verkaufen Zigaretten in der Fußgängerzone, die »Jugo-Mafia« betreibt illegale Spielsalons.
Die Treuhänder ziehen mit ihren Büros in ehemalige Wohnungen. Aus dem achten Stock haben sie einen Blick auf die »Scheibe nebenan« und den Parkplatz am Fuß des Hochhauses, wo sie – geschützt hinter einer Kette – ihre Westautos parken: Modelle von Audi, BMW, Mercedes und ein Porsche stehen da, inmitten von Ha-Neu. Auf den Straßen ringsherum parken Trabis, Wartburgs, zehn Jahre alte Golfs und Opels, gebraucht von Westdeutschen an die Hallenser verkauft.
Computer installieren, Kollegen anstellen, Liquiditätskredite auszahlen, so sieht der Alltag von Klaus Klamroth in Halle aus. Er hat viel mit den Filialen der westdeutschen Banken zu tun, die die Kredite für die Treuhand auszahlen und die Unternehmen vor Ort bereits kennen. Klamroth ist für fast 700 Firmen in Halle zuständig. Alle besuchen kann er nicht. Zunächst müssen alle ehemaligen Betriebsleiter offiziell zu Geschäftsführern ernannt werden, sie müssen Verträge bekommen, es müssen Bilanzen aufgestellt werden.
Klamroth versucht sich einen Überblick zu verschaffen, so gut es geht: Die Firmen, die ihm überantwortet sind, scheinen in einem schlimmen Zustand zu sein. Zweimal hatte er bisher – als Gläubiger – mit einer Insolvenz im Westen zu tun. Die beiden Unternehmer, die er in die Pleite gehen sah, schienen ihm im wesentlich besseren Zustand als alle ehemaligen Staatsbetriebe in Halle, deren Akten er studiert. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Viele Unternehmen müsste man schließen oder mit großem zeitlichen und finanziellen Aufwand sanieren.
Immer mehr Kollegen aus dem Westen kommen in die »Scheibe D«, darunter junge, dynamische Berufsanfänger, die sich von der düsteren Lage nicht die Laune verderben lassen. Seit Dezember arbeitet ein Anwalt aus Süddeutschland in der Niederlassung. Er hat sein Büro ganz in der Nähe von Klamroth. Der Mann, Tim Olaf
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