Der Dienstagabend-Club
Die Stelle an der Jasminhecke ist sehr beliebt. Dort hat vor Jahren auch der Milchmann unsere Annie gefragt, ob er das Aufgebot bestellen dürfe.«
»Zum Kuckuck, Tante Jane«, rief Raymond. »Verdirb nicht alle Romantik. Joyce und ich sind nicht wie der Milchmann und Annie.«
»Da bist du aber auf dem Holzweg, lieber Neffe«, meinte Miss Marple. »Die Menschen sind sich alle sehr ähnlich. Aber es ist vielleicht ein Glück, dass sie es nicht merken.«
Die blaue Geranie
» A ls ich letztes Jahr in dieser Gegend war – « Sir Henry Clithering brach ab, und seine Gastgeberin, Mrs Bantry, schaute ihn neugierig an.
Der ehemalige Kommissar von Scotland Yard war bei seinen alten Freunden, Colonel Bantry und seiner Frau, zu Besuch, die in der Nähe von St. Mary Mead lebten.
Mrs Bantry überlegte gerade, wen sie wohl für den Abend als sechsten Gast zum Essen einladen sollte, und bat Sir Henry um Rat.
»Wen könnten Sie vorschlagen?«, ermunterte sie ihn.
»Sagen Sie, kennen Sie eine Miss Marple?«, fragte Sir Henry.
Mrs Bantry war überrascht. Das hatte sie am allerwenigsten erwartet.
»Miss Marple? Wer kennt sie wohl nicht! Die typische alte Jungfer. Ein sehr netter Mensch, aber hoffnungslos hinter dem Mond. Wollen Sie etwa, dass ich sie zum Essen einlade?«
»Überrascht Sie das?«
»Ein wenig, muss ich gestehen. Das hatte ich gar nicht erwartet… aber vielleicht haben Sie einen besonderen Grund?«
»Der besondere Grund ist ganz einfach. Als ich im vergangenen Jahr hier war, pflegten wir unaufgeklärte geheimnisvolle Begebenheiten zu erörtern – wir waren fünf oder sechs Personen –, Raymond West, der Schriftsteller, regte diesen Zeitvertreib an. Jeder von uns erzählte eine Geschichte, deren Ausgang nur dem Erzähler bekannt war. Das sollte unser Denkvermögen auf die Probe stellen – um zu sehen, wer der Wahrheit am nächsten kam.«
»Na, und?«
»Wir hatten nicht angenommen, dass Miss Marple mitmachen würde. Aber wir waren höflich – wollten ihre Gefühle nicht verletzen. Und nun kommt das Schönste vom Ganzen: Die alte Dame übertrumpfte uns mit ihrem Scharfsinn jedes Mal!«
»Das ist doch nicht möglich!«
»Ich gebe Ihnen mein Wort – jedes Mal traf sie den Nagel auf den Kopf.«
»Wie merkwürdig! Dabei hat die gute alte Miss Marple St. Mary Mead so gut wie nie verlassen.«
»Ah! Aber gerade das hat ihr, wie sie selbst sagt, unbegrenzte Gelegenheit gegeben, die menschliche Natur zu beobachten – unter dem Mikroskop sozusagen.«
»Daran mag schon etwas Wahres sein«, räumte Mrs Bantry ein. »Man kann zumindest die kleinlichen Seiten der Leute kennen lernen. Aber ich glaube nicht, dass wir wirklich interessante Fälle zu bieten haben. Wir werden ihr wohl Arthurs Geistergeschichte nach dem Essen vorsetzen müssen. Ich wäre dankbar, wenn sie dafür eine Lösung fände.«
»Ich wusste gar nicht, dass Arthur an Geister glaubt.«
»Das tut er auch nicht. Darum beunruhigt ihn die Sache ja so. – Und es ist seinem Freund, George Pritchard – einem ganz prosaischen Menschen –, passiert. Für den armen George ist es eigentlich ziemlich tragisch. Entweder ist diese ungewöhnliche Geschichte wahr oder – «
»Oder was?«
Mrs Bantry antwortete nicht gleich. Nach einer Weile sagte sie, ohne auf seine Frage einzugehen:
»Wissen Sie, ich mag George gern – jeder mag ihn. Man kann einfach nicht glauben, dass er – aber die Menschen bringen die seltsamsten Dinge fertig.«
Sir Henry nickte. Davon konnte er ein Lied singen. Das wusste er besser als Mrs Bantry.
So kam es, dass Mrs Bantry abends, als ihre Augen prüfend um den Esstisch wanderten (sie zitterte dabei ein wenig, denn das Esszimmer war, wie die meisten englischen Esszimmer, außerordentlich kalt), ihren Blick auf der sehr aufrechten Gestalt der alten Dame ruhen ließ, die zur Rechten ihres Mannes saß. Miss Marple trug schwarze fingerlose Spitzenhandschuhe; ein Spitzentuch war um ihre Schultern drapiert, und ein weiteres Stück Spitze thronte auf ihrem weißen Haar. Sie unterhielt sich lebhaft mit dem älteren Arzt, Dr. Lloyd, über das Armenhaus und die mutmaßlichen Fehler der Gemeindeschwester.
Mrs Bantry wunderte sich von Neuem. Sie fragte sich sogar, ob Sir Henry sich vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubt habe – aber das schien unwahrscheinlich. Unglaublich, dass seine Behauptungen wahr sein sollten.
Ihr Blick wanderte weiter und ruhte liebevoll auf dem leicht geröteten Gesicht ihres breitschultrigen Mannes, der
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