Der Dienstagabend-Club
Monat aufrechterhalten«, gab Miss Marple zu bedenken. »Und während dieser Zeit ist sie wohl viel gereist und hat sich von allen ferngehalten, die sie kannten. Da, wie ich schon sagte, Damen in einem gewissen Alter sich sehr ähnlich sehen, ist niemandem das falsche Passbild aufgefallen, ganz abgesehen davon, dass Passbilder sowieso nicht viel taugen. Und im März fuhr sie dann in dieses cornische Dorf und zog durch ihr merkwürdiges Verhalten die Aufmerksamkeit auf sich, damit die Leute, wenn sie ihre Kleider am Strand sahen und ihren letzten Brief lasen, nicht misstrauisch werden sollten, wenn – «
»Wenn was?«, drängte Sir Henry.
»Wenn keine Leiche da war«, sagte Miss Marple mit fester Stimme. »Diese Tatsache hätte wohl jeden stutzig gemacht, wenn nicht diese vielen Ablenkungsmanöver mit Gewissensbissen und dergleichen alle von der richtigen Spur entfernt hätten. Keine Leiche. Das war die wirklich bedeutsame Tatsache.«
»Wollen Sie etwa sagen«, fragte Mrs Bantry, »wollen Sie etwa sagen, dass sie keine Gewissensbisse hatte? Dass sie überhaupt nicht ins Wasser gegangen ist?«
»Genau das«, bestätigte Miss Marple. »Mit Mrs Trout war es dasselbe. Auch sie verstand sich gut auf Ablenkungsmanöver, aber ich kam ihr auf die Schliche. Und ich habe auch die von Gewissensbissen gequälte ›Miss Barton‹ durchschaut. Die und sich ertränken? Wahrscheinlich ist sie nach Australien gefahren, wenn ich einigermaßen gut raten kann.«
»Das können Sie wirklich, Miss Marple«, beteuerte Dr. Lloyd. »Ohne jeden Zweifel. Ich war ganz überrascht an jenem Tag in Melbourne.«
»War das die letzte Koinzidenz, von der Sie am Anfang sprachen?«
Dr. Lloyd nickte.
»Ja, das war eine Pechsträhne für Miss Barton oder Miss Amy Durrant, je nachdem, wie man sie bezeichnen will. Ich arbeitete eine Zeit lang als Schiffsarzt, und als ich in Melbourne ankam, fiel mein erster Blick auf die Dame, von der ich angenommen hatte, dass sie in Cornwall ertrunken sei. Sie erkannte, dass sie bei mir ausgespielt hatte, und handelte sehr kühn: Sie zog mich ins Vertrauen. Eine merkwürdige Frau, der ein moralisches Bewusstsein vollkommen abging, wie ich vermute. Sie war die Älteste von neun Kindern und ihre Familie jämmerlich arm. Sie hatten einmal ihre reiche Kusine in England, Miss Barton, um Hilfe angefleht; aber umsonst, da Miss Barton sich mit ihrem Vetter überworfen hatte. Sie brauchten unbedingt Geld, da die drei jüngsten Kinder zart waren und eine kostspielige ärztliche Behandlung nötig hatten. In jenem Augenblick scheint Amy Barton den Plan gefasst zu haben, ihre Kusine kaltblütig zu ermorden. Sie machte sich auf nach England und verdiente sich ihre Überfahrt damit, dass sie einen Posten als Kindermädchen annahm. In England nannte sie sich Amy Durrant, und es gelang ihr, von Miss Barton als Gesellschafterin engagiert zu werden. Sie mietete sich ein Zimmer und stellte ein paar Möbel hinein, um sich einen gewissen Hintergrund zu schaffen. Der Plan mit dem Ertränken beruhte auf einer plötzlichen Inspiration. Sie hatte schon die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet. Dann inszenierte sie den Schlussakt ihres Dramas und kehrte nach Australien zurück. Nach einer gewissen Zeit erbten sie und ihre Geschwister Miss Bartons Geld als nächste Verwandte.«
»Ein sehr kühnes und perfektes Verbrechen«, bemerkte Sir Henry. »Beinahe das perfekte Verbrechen. Wenn Miss Mary Barton auf den Kanarischen Inseln umgekommen wäre, hätte sich der Verdacht wahrscheinlich auf Amy Durrant gerichtet, und dann wäre ihre Verbindung mit der Familie Barton ans Licht gekommen. Doch der Wechsel der Persönlichkeit und das doppelte Verbrechen, wenn man es so nennen will, haben diese Gefahr gründlich beseitigt. Ja, fast das perfekte Verbrechen.«
»Was geschah mit ihr?«, fragte Mrs Bantry. »Was haben Sie in der Angelegenheit unternommen, Dr. Lloyd?«
»Ich befand mich in einer merkwürdigen Situation, Mrs Bantry. Im Sinne des Gesetzes hatte ich immer noch keine Beweise. Auch erkannte ich als Arzt an gewissen Zeichen, dass die Dame, obwohl sie einen starken, kräftigen Eindruck machte, nicht mehr lange auf dieser Erde weilen würde. Ich begleitete sie nachhause und lernte ihre Geschwister kennen – reizende Menschen, die ihre älteste Schwester verehrten und nicht die leiseste Ahnung hatten, dass sie eine Verbrecherin war. Warum sollte ich Kummer und Sorgen über diese Familie bringen, wenn ich nichts beweisen konnte. Das
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