Der Dienstagabend-Club
dort begraben, und es muss ungefähr zehn Tage später gewesen sein, als Miss Barton mit einem Schiff nach England zurückfuhr. Das Ganze hatte sie so aufgeregt, dass sie den Winter nicht dort verbringen mochte, wie sie geplant hatte. Das sagte sie jedenfalls.«
»War es ihr anzumerken, dass sie aufgeregt war?«, fragte Miss Marple.
Der Doktor zögerte.
»Nun, äußerlich konnte man ihr nichts ansehen«, sagte er vorsichtig.
»Sie wurde zum Beispiel nicht dicker?«, fragte Miss Marple.
»Wissen Sie – es ist sehr merkwürdig, dass Sie das sagen. Und ich glaube sogar, Sie haben Recht. Jetzt, wo ich daran zurückdenke, scheint es mir tatsächlich so, als habe sie zugenommen.«
»Wie grässlich«, meinte Jane Helier schaudernd. »Es – es klingt ja beinahe so, als ob sie sich vom Blut ihres Opfers nährte.«
»Und doch mag ich ihr auf andere Weise Unrecht zufügen«, fuhr Dr. Lloyd fort. »Bevor sie abreiste, sagte sie tatsächlich etwas, das auf etwas ganz anderes schließen ließ. Bei manchen Menschen arbeitet das Gewissen, glaube ich, sehr langsam; sie brauchen eine gewisse Zeit, bis sie sich der Ungeheuerlichkeit einer begangenen Tat bewusst werden.
Es war am Abend vor ihrer Abreise von den Kanarischen Inseln.
Sie hatte um meinen Besuch gebeten und sich bei mir für alle meine Hilfe herzlich bedankt. Ich wehrte natürlich ab und stellte alles als ganz selbstverständlich hin. Nach einer kurzen Pause stellte sie mir plötzlich eine Frage: ›Glauben Sie, dass man je dazu berechtigt ist, selbst Gerechtigkeit zu üben?‹
Ich erwiderte, dass das eine ziemlich schwierige Frage sei, die ich aber im Großen und Ganzen verneinen müsse. Dazu sei das Gesetz da, und diesem Gesetz müssten wir uns fügen.
›Selbst wenn das Gesetz machtlos ist?‹
›Das verstehe ich nicht ganz.‹
›Es ist sehr schwierig zu erklären. Aber man könnte einen sehr guten und triftigen Grund haben für eine Tat, die unbedingt als verkehrt, ja sogar als ein Verbrechen angesehen wird.‹
Ich erwiderte ganz trocken, dass wahrscheinlich eine ganze Reihe von Verbrechern dieser Ansicht gewesen seien, und sie wich vor mir zurück.
›Das ist aber schrecklich‹, murmelte sie. ›Schrecklich.‹
Dann bat sie mich plötzlich in verändertem Ton um ein Schlafmittel. Sie habe seit – sie zauderte – seit dem furchtbaren Schock nicht mehr richtig schlafen können.
›Sind Sie sicher, dass das der Grund ist?‹, fragte ich. ›Sonst beunruhigt Sie nichts? Es lastet nichts auf Ihrer Seele?‹
›Auf meiner Seele? Was sollte wohl schon auf meiner Seele lasten?‹
Sie stieß diese Worte heftig und misstrauisch hervor.
›Angst ist manchmal die Ursache von Schlaflosigkeit‹, sagte ich leichthin.
Sie schien einen Augenblick nachzudenken.
›Meinen Sie Angst vor der Zukunft oder Angst wegen der Vergangenheit, die nicht mehr zu ändern ist?‹
›Beides!‹
›Nur hätte es keinen Zweck, sich über die Vergangenheit zu beunruhigen. Sie ist unwiederbringlich – Oh! Was für einen Sinn hat es schon! Man darf nicht denken. Man darf nicht nachdenken.‹
Ich verordnete ihr einen milden Schlaftrunk und verabschiedete mich. Beim Fortgehen dachte ich ziemlich lange über die Worte nach, die sie gesagt hatte. ›Sie ist unwiederbringlich – Was? Oder wer?
Ich glaube, diese letzte Unterredung bereitete mich gewissermaßen auf die folgenden Erlebnisse vor, die ich natürlich nicht erwartet hatte. Aber als sie eintraten, war ich nicht überrascht. Ich hatte nämlich von Anfang an den Eindruck, dass Mary Barton eine gewissenhafte Frau und keine leichtsinnige Person sei. Eine Frau mit Prinzipien, die nach diesen Prinzipien handeln und nicht nachgeben würde, solange sie daran glaubte. Ich hatte das Empfinden, dass sie während unserer letzten Unterhaltung begann, ihre eigenen Prinzipien anzuzweifeln. Ihre Worte deuteten darauf hin, dass sie die ersten schwachen Regungen jenes schrecklichen Seelenforschers spürte, den man das Gewissen nennt.
Es passierte dann in Cornwall, in einem kleinen, um diese Jahreszeit ziemlich verlassenen Badeort. Es muss Ende März gewesen sein. Ich las darüber in der Zeitung. Eine Dame hatte dort in einem kleinen Hotel gewohnt – eine Miss Barton. Sie hatte ein äußerst merkwürdiges Wesen zur Schau getragen. Das war allen aufgefallen. Nachts war sie in ihrem Zimmer auf und ab gegangen und hatte vor sich hin gemurmelt, sodass in den benachbarten Zimmern niemand schlafen konnte. Eines Tages hatte sie den Pfarrer
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