Der digitale Daemon
versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr. Wir besitzen keine gewählte Regierung, und wir werden wohl auch nie eine bekommen – und so wende ich mich mit keiner größeren Autorität an Euch als der, mit der die Freiheit selber spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, den wir errichten, als gänzlich unabhängig von der Tyrannei, die Ihr über uns auszuüben anstrebt. Ihr habt hier kein moralisches Recht zu regieren, noch besitzt Ihr Methoden, es zu erzwingen, die wir zu befürchten hätten. Unsere Welt ist anders. Der Cyberspace besteht aus Beziehungen, Transaktionen und dem Denken selbst, positioniert wie eine stehende Welle im Netz der Kommunikation. Unsere Welt ist überall und nirgends, und sie ist nicht dort, wo Körper leben. Es gibt im Cyberspace keine Materie.«
Geträumt wurde von der weltweiten Demokratie, der virtuellen Agora, der digitalen Allmende, einer Geschenkökonomie und von neuen sozialen Strukturen, die von den digitalen Pionieren entwickelt wurden, die nicht wie die früheren Pioniere Ureinwohner vertrieben und das Land kultivierten, sondern die das Land erst in das Nichts des soften digitalen Raums hinein- und ausbauten. Da alle körperlichen, sozialen und ethnischen Unterschiede zwischen den Menschen wegfielen, würde sich eine Art himmlischer Gemeinschaft verwirklichen, die Weihe oder die Taufe geschehe bereits über den Eintritt in den Cyberspace.
Utopien teilen mit Fortschrittstechniken die Ambivalenz, stets Hoffnung und Schrecken zugleich zu sein. Während jedoch Technologien den Vorteil zu haben scheinen, aus verschiedenen Interessen heraus unterschiedlich benutzt und überdies meist auch verbessert werden zu können, sind politische Utopien eher direkt mit ihrer Einlösung verknüpft und daher mit ihrem Scheitern vielleicht auch leichter verwerfbar. An so etwas wie ein Mooresches Gesetz des Fortschritts glaubt wohl im Bereich der Gesellschaftsentwicklung heute niemand mehr, auch wenn man um die zukunftsgläubige Zeitschrift Wired , die Mitte der 90er Jahre mit der Durchsetzung des Web und der New Economy Kultstatus erwarb und sich der »digitalen Revolution« verschrieben hatte, noch 1996 einen »Long Boom« verkündet hat:
»Wir gehen einem Vierteljahrhundert Wohlstand, Freiheit und besserem Umweltschutz auf der ganzen Welt entgegen. Haben Sie damit ein Problem?«
Getrieben vom technischen Fortschritt, trete man in »eine Periode anhaltenden Wachstums ein, das womöglich die Weltwirtschaft alle 12 Jahre verdoppeln und einen wachsenden Wohlstand für – ganz wörtlich – Milliarden von Menschen auf diesem Planeten mit sich bringen wird.« Die Armut verschwindet, die Konflikte hören auf, man wird tolerant, schätzt die Vielfalt, schont die Natur und ist ansonsten fleißig, damit die gottgefällige Kette der Innovationen und des kontinuierlichen Wachstums nicht enden möge:
»Kurz gesagt, das Hauptrezept für das künftige Zeitalter ist: Offen, gut. Geschlossen, schlecht … Das ist die Gewinnerstrategie für Individuen, für Nationen, für die globale Gemeinschaft in den nächsten Jahren.«
Obwohl gerade 15 Jahre her, wirkt diese futurologische Ankündigung aus der Zeit der Internetblase, in der alles möglich schien, Geld reichlich vorhanden war und die Vernetzung alles gut macht, heute grotesk.
Im virtuellen Raum, der sich als neue Welt in den Computernetzen bildet, wird die materielle Realität und damit der Körper zurückgelassen. Das war die eine Position, die eine Art Auf- und Einstieg in eine andere, von dieser getrennten Welt, eine Art Paralleluniversum versprach. Allerdings gingen die Träume weiter. Nach manchen überschwänglichen Vorstellungen ließe sich im Virtuellen diese Welt oder eine ganz andere in all ihrer Komplexität mitsamt sich evolutionär entwickelndem künstlichem Leben erschaffen – und manche spekulierten dann auch darauf, in einer Art Himmelfahrt die eigene Persönlichkeit irgendwie in die Avatare oder in die Computernetze hinaufladen zu können und dann als virtueller oder digitaler Engel ewig leben zu können, befreit vom unvollkommenen Körper.
Gegenwärtige Trends
Aber die Schaffung eines virtuellen Paralleluniversums, in das die Menschen mehr oder weniger weit eintreten können, ist gegenwärtig wohl nicht mehr so interessant, auch wenn dies für Spielewelten oder für realistische Kampf- und Trainingssimulationen oder in manchen Telepräsenzanwendungen anders aussehen mag. Die allseitige Vernetzung des Raums, der Objekte, der
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