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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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hatte. Dass ich eine Gehirnerschütterung gehabt hatte. Dass ich mir nicht genau überlegt hatte,was ich tat. Dass ich nicht vorgehabt hatte, es so lange herumstehen zu lassen. Aber im Zwischenreich meiner Wohnungslosigkeit wäre es doch irrsinnig, vorzutreten und etwas zu gestehen, was viele Leute, das wusste ich, als schwerwiegende Missetat betrachten würden.
    Und dann sah ich rein zufällig– als mir gerade klar wurde, dass ich wirklich nicht mehr sehr viel länger warten konnte– ein winziges Schwarzweißfoto des Gemäldes im Wirtschaftsteil der Times.
    Vielleicht infolge der Beklommenheit, die den Haushalt im Kielwasser von Platts Problem erfüllte, kam es jetzt gelegentlich vor, dass die Zeitung den Weg aus Mr. Barbours Arbeitszimmer herausfand. Sie zerlegte sich dort und kam, immer ein, zwei Seiten auf einmal, wieder zum Vorschein. Diese Seiten, ungeschickt zusammengefaltet, lagen jetzt verstreut in der Nähe eines mit einer Serviette umhüllten Glases Club Soda (Mr. Barbours Visitenkarte) auf dem Couchtisch im Wohnzimmer. Der Artikel, lang und langweilig und im hinteren Teil, handelte von der Versicherungsindustrie und von den finanziellen Problemen beim Aufbau einer großen Kunstausstellung in einer beeinträchtigten Konjunktur, vor allem aber von den Schwierigkeiten bei der Versicherung reisender Kunstwerke. Was mir ins Auge fiel, war die Bildunterschrift: Der Distelfink, Carel Fabritius ’ Meisterwerk aus dem Jahr 1634 – zerstört.
    Ohne nachzudenken, ließ ich mich in Mr. Barbours Sessel fallen und durchsuchte den dicht gesetzten Text nach weiteren Erwähnungen meines Bildes (ich hatte schon angefangen, es als mein Bild zu betrachten, und der Gedanke schob sich in meinen Kopf, als hätte ich es schon mein Leben lang besessen).
    Fragen des internationalen Rechts kommen in Fällen von Kulturterrorismus wie diesem ins Spiel, der einen eisigen Wind sowohl durch die Finanz- wie auch durch die Kunstwelt hat wehen lassen. »Der Verlust auch nur eines dieser Stücke ist unmöglich zu quantifizieren«, sagte Murray Twitchell, ein Londoner Versicherungsrisikoanalytiker. »Neben den zwölf verlorenen und mutmaßlich zerstörten Stücken wurden 27 Werke stark beschädigt, auch wenn in einigen Fällen eine Restaurierung möglich ist.« Es mag vielen als vergebliche Geste erscheinen, wenn die Kunstverlust-Datenbank
    Der Artikel ging auf der nächsten Seite weiter, aber in diesem Moment kam Mrs. Barbour herein, und ich musste die Zeitung weglegen.
    » Theo « , sagte sie, » ich habe einen Vorschlag für dich. «
    » Ja? « , sagte ich wachsam.
    » Möchtest du dieses Jahr mit uns nach Maine hinaufkommen? «
    Im ersten Moment war ich so überglücklich, dass mir überhaupt nichts einfiel. » Ja! « , sagte ich dann. » Wow. Das wäre super! «
    Sogar sie musste lächeln, ein bisschen jedenfalls. » Ja « , sagte sie, » Chance wird dich jedenfalls mit Vergnügen auf dem Boot arbeiten lassen. Wie es aussieht, werden wir dieses Jahr etwas früher hinausfahren– das heißt, Chance und die Kinder werden früher fahren. Ich bleibe noch in der Stadt, um ein paar Dinge zu erledigen, aber in ein, zwei Wochen bin ich auch oben. «
    Ich war so glücklich, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
    » Wir werden sehen, wie dir das Segeln gefällt. Vielleicht hast du mehr Freude daran als Andy. Das wollen wir jedenfalls hoffen. «
    » Du glaubst, das wird lustig « , sagte Andy düster, als ich in unser Zimmer rannte (rannte, nicht ging), um ihm die gute Nachricht zu überbringen. » Wird es aber nicht. Du wirst es hassen. « Trotzdem sah ich genau, wie sehr er sich freute. Und an diesem Abend saß er vor dem Schlafengehen mit mir auf der Kante des unteren Bettes und redete mit mir über die Bücher, die wir mitnehmen würden, die Spiele und über die Symptome der Seekrankheit, damit ich mich vor der Arbeit an Deck drücken könnte, wenn ich keine Lust dazu hätte.
    XV
    Nach dieser zweifachen Neuigkeit– gut an beiden Fronten– war ich schlaff und benommen vor Erleichterung. Wenn mein Bild zerstört war– wenn die offizielle Version so lautete, dann hatte ich noch reichlich Zeit zu entscheiden, was ich tun sollte. Und kraft desselben Zaubers schien Mrs. Barbours Einladung über den Sommer hinaus und weit bis zum Horizont zu reichen, als läge der ganze Atlantik zwischen mir und Grandpa Decker. Der Aufschwung war schwindelerregend; ich sah mich verschont und konnte nur frohlocken. Ich wusste, ich sollte das Bild

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