Der Distelfink
getan hat. Dann hab ich die Tür abgeschlossen. War sicher, er stirbt im Schnee. Gut, dass er nicht getan hat, eh? « Er lachte laut. » Dann säße ich jetzt fest in Ukraine, mein Gott. Müsste im Bahnhof schlafen. «
» Was ist denn passiert? «
» Keine Ahnung. War nicht spät genug in der Nacht. Hat ihn jemand gesehen und ins Auto genommen– irgendeine Frau, nehme ich an, wer weiß? Ist jedenfalls losgezogen und hat weitergetrunken. Ein paar Tage später wieder ist gekommen nach Hause– und ich hatte Glück, denn er erinnerte sich nicht, was passiert war! Hater mir stattdessen einen Fußball mitgebracht und versprochen, vonjetzt an trinkt er nur noch Bier. Das klappte vielleicht einen Monat. «
Ich rieb mir das Auge hinter dem Brillenglas. » Was wirst du in der Schule sagen? «
Er öffnete die Bierflasche. » Hä? «
» Na, ich meine nur. « Der Bluterguss in seinem Gesicht hatte die Farbe von rohem Fleisch. » Die Leute werden fragen. «
Er grinste und stieß mir den Ellenbogen in die Seite. » Ich sage, du warst das. «
» Nein, im Ernst. «
» Das ist mein Ernst. «
» Boris, das ist nicht komisch. «
» Ach, jetzt komm. Football, Skateboard. « Das schwarze Haar fiel ihm ins Gesicht wie ein Schatten, und er warf es zurück. » Du willst doch nicht, dass sie mich wegbringen, oder? «
» Okay « , sagte ich nach einer unbehaglichen Pause.
» Denn Polen « , er reichte mir die Bierflasche, » ich glaube, das wär’s. Bei Ausweisung. Obwohl Polen « , er lachte, aber es klang eher wie ein alarmierendes Kläffen, » besser als Ukraine, mein Gott! «
» Dahin können sie dich nicht zurückschicken, oder? «
Stirnrunzelnd schaute er auf seine Hände. Sie waren schmutzig, und er hatte Blut unter den Nägeln. » Nein « , sagte er heftig. » Denn vorher bringe ich mich um. «
» Oh, buhuhu. « Boris drohte ständig damit, sich aus diesem oder jenem Grund umzubringen.
» Ich mein’s ernst! Vorher sterbe ich! Lieber ich bin tot. «
» Nein, bist du nicht. «
» Doch, bin ich doch. Der Winter– du hast keine Ahnung, wie das ist. Sogar die Luft ist schlecht. Überall grauer Beton und der Wind… «
» Na, irgendwann muss da doch auch Sommer sein. «
» Ach Gott. « Er griff nach meiner Zigarette, nahm einen tiefen Zug und blies eine lange Rauchfahne zur Decke. » Mücken. Stinkender Schlamm. Alles riecht nach Schimmel. Ich war so ausgehungert und einsam– ich meine, im Ernst, manchmal hatte ich solchen Hunger, dass ich zum Fluss ging und überlegte, ob ich mich ertränken soll. «
Ich hatte Kopfschmerzen. Boris’ Kleider (meine, genau genommen) drehten sich im Trockner umeinander. Draußen schien die Sonne hell und niederträchtig.
» Keine Ahnung, wie es dir geht « , sagte ich, » aber ich könnte was Richtiges zu essen gebrauchen. «
» Was machen wir dann? «
» Wir hätten in die Schule gehen sollen. «
» Pffff. « Boris ließ keinen Zweifel daran, dass er nur in die Schule ging, weil ich es tat und weil es sonst nichts zu tun gab.
» Nein, wirklich. Wir hätten gehen sollen. Heute ist Pizza-Tag. «
Boris verzog mit aufrichtigem Bedauern das Gesicht. » Scheiße. « Das war ein zweiter Grund für die Schule: Zumindest bekamen wir dort etwas zu essen. » Jetzt ist zu spät. «
XXV
Manchmal wachte ich nachts heulend auf. Das Schlimmste an der Explosion war, wie fest sie sich in meinem Körper verankert hatte– die Hitze, der knochenerschütternde Schlag. In meinen Träumen gab es immer einen hellen und einen dunklen Weg hinaus, und ich musste den dunklen nehmen, weil der helle Weg heiß war, erfüllt von flackerndem Feuer. Aber auf dem dunklen Weg lagen die Leichen.
Zum Glück war Boris nie verärgert oder auch nur erschrocken, wenn ich ihn weckte; als käme er aus einer Welt, in der nächtliches Schmerzgeheul nichts Ungewöhnliches war. Manchmal hob er dann Poptschik auf, der schnarchend an unserem Fußende lag, und legte mir das schlaffe, schlafende Knäuel auf die Brust. So niedergehalten– und umgeben von der Wärme der beiden– lag ich dann da und zählte auf Spanisch oder versuchte, mir alle russischen Wörter einfallen zu lassen, die ich kannte (hauptsächlich Schimpfwörter), bis ich wieder einschlief.
In der ersten Zeit in Vegas hatte ich, damit es mir besser ging, versucht, mir vorzustellen, meine Mutter lebte noch und ginge zu Hause in New York ihrem Alltag nach– plauderte mit den Pförtnern, holte sich Kaffee und einen Donut im Schnellrestaurant und wartete neben
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