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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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geöffnet–, dass das Papier eingerissen war und das Paketband nicht mehr klebte. Nachdem ich eine Weile auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte, stand ich auf, holte die extrabreite Rolle festes Klebeband, die von unserem Umzug übrig geblieben war, und löste den Kopfkissenbezug vom Kopfteil.
    Es in den Händen zu halten und nicht auszupacken, um einen Blick darauf zu werfen– die Verlockung war zu groß. Eilig zog ich es heraus und wurde beinahe sofort von seinem Glanz umhüllt, etwas beinahe Musikalischem, einer innewohnenden Süße, die jenseits einer tiefen, bis ins Blut gehenden Harmonie der Stimmigkeit nicht zu erklären war, so wie das Herz langsam und sicher schlug, wenn man mit einem Menschen zusammen war, bei dem man sich geborgen und geliebt fühlte. Das Bild strahlte eine Kraft aus, ein Leuchten, eine Frische wie das Morgenlicht in meinem alten Zimmer in New York, das erhaben und doch erheiternd war, ein Licht, das allem klare Konturen gab und es doch feiner und lieblicher erscheinen ließ, als es in Wirklichkeit war, und umso lieblicher, da es ein Teil der Vergangenheit und unwiederbringlich war: schimmernde Tapeten und der alte Rand-McNally-Globus im Halbschatten.
    Kleiner Vogel, gelber Vogel. Ich riss mich aus meiner Benommenheit, schob das Bild zurück in seine Hülle aus mit Papier umwickelten Geschirrtüchern, schlug sie in zwei oder drei (vier? fünf?) alte Sportseiten meines Dads ein und wickelte– impulsiv und auf meine bekiffte Art zielstrebig– Klebeband darum, bis kein Fetzen Zeitung mehr zu sehen war und die komplette Rolle extrabreiten Klebebands verbraucht war. Niemand würde dieses Paket aus einer Laune heraus öffnen. Selbst mit einem guten Messer statt nur einer Schere würde man schön lange brauchen, um es aufzuschneiden. Als ich schließlich fertig war– das Bündel sah aus wie ein seltsamer Science-Fiction-artiger Kokon–, stopfte ich das mumifizierte Gemälde samt Kopfkissenbezug in meine Büchertasche und legte sie am Fußende unter meine Bettdecke. Gereizt und mit einem Stöhnen machte Popper Platz. So winzig er war und so albern er aussah, war er doch ein grimmiger Kläffer und verteidigte seinen Platz an meiner Seite verbissen, und ich wusste, dass er, wenn jemand die Zimmertür öffnen würde, während ich schlief– selbst wenn es Xandra oder mein Dad waren, die er beide nicht besonders mochte–, aufspringen und Alarm schlagen würde.
    Was als beruhigender Gedanke begonnen hatte, verwandelte sich ein weiteres Mal in Fantasien von Fremden und Einbrechern. Die Klimaanlage war so kalt eingestellt, dass ich zitterte, und als ich die Augen schloss, spürte ich, wie ich aus meinem Körper herausschwebte und schnell nach oben trieb wie ein losgerissener Ballon, nur um mit einem heftigen Zucken hochzuschrecken, wenn ich die Augen wieder öffnete. Also hielt ich sie geschlossen und versuchte, mir so gut ich konnte, das Hart-Crane-Gedicht ins Gedächtnis zu rufen, wobei nicht viel herauskam, obwohl selbst in einzelnen Wörtern wie Möwe, Verkehr, Lärm und Morgen etwas mitschwang von seinen weiten Flügen und Bögen von hoch oben bis tief unten, bis ich kurz vor dem Einschlafen von einer sinnlich konkreten Erinnerung an den schmalen, windigen und nach Abgasen stinkenden Park in der Nähe unserer alten Wohnung am East River überwältigt wurde, wo der Verkehrslärm körperlos über einen hinwegrauschte, während der Fluss sich in reißenden, verwirrenden Strömungen kräuselte, dass es manchmal aussah, als würde er in zwei verschiedene Richtungen fließen.
    XI
    In jener Nacht schlief ich nicht viel und war, als ich das Gemälde am nächsten Tag in meinem Spind in der Schule verstaute, so erschöpft, dass ich nicht einmal bemerkte, dass Kotku (die an Boris hing, als wäre nichts geschehen) eine dicke Lippe hatte. Erst als ich Eddie Riso, einen harten Typen aus dem Abschlussjahrgang, fragen hörte: » Gegen eine Tür gerannt? « , sah ich, dass jemand ihr einen ordentlichen Schlag ins Gesicht verpasst hatte. Sie lief herum, lachte ein bisschen nervös und erzählte den Leuten, sie habe sich an einer Wagentür gestoßen, jedoch derart verlegen, dass es sich (zumindest für mich) nicht besonders glaubwürdig anhörte.
    » Warst du das? « , fragte ich Boris, als ich ihn im Englischunterricht das nächste Mal alleine (oder relativ alleine) sah.
    Boris zuckte die Schultern. » Ich wollte es nicht. «
    » Was soll das heißen, du wolltest es nicht? «
    Boris wirkte

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