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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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biss– eigentlich praktisch alles außer dem, was er war: ein Mädchenhund, ein Spielzeug, total schwul, ein Hund, den auf der Straße auszuführen mir peinlich war. Nicht, dass Popper nicht niedlich gewesen wäre, er war vielmehr genau die Sorte winziger tänzelnder Knuffel, den viele Menschen mochten– vielleicht nicht ich, aber irgendein kleines Mädchen wie das auf der anderen Seite des Ganges würde ihn doch, wenn sie ihn am Straßenrand fand, bestimmt mit nach Hause nehmen und ihm Schleifchen ins Fell binden?
    Ich saß stocksteif da und durchlebte die Panik, die wie ein Blitzschlag durch meinen Körper gezuckt war, immer wieder: das Gesicht der Fahrerin, mein Schock. Wirklich Angst machte mir das Wissen, dass ich, wenn sie mich zwang, Popper auszusetzen, mit ihm in der Einöde des tiefsten Illinois aussteigen musste (und was dann?). Regen, zwischen lauter Maisfeldern alleine am Straßenrand. Auf der anderen Seite des Ganges hatte die Mutter den Arm um das kleine Mädchen gelegt und sang ganz leise: You are my sunshine. Bis auf ein paar Krümel der Kartoffelchips, die der Taxifahrer mir geschenkt hatte, hatte ich nichts mehr zu essen. Draußen zogen endlose Felder und kleine namenlose Städte vorbei, ich hatte einen unangenehmen salzigen Geschmack im Mund, fror und fühlte mich verloren, starrte auf ödes Farmland und dachte an Lieder, die meine Mutter mir vor Urzeiten vorgesungen hatte. Toot, toot, tootsie goodbye, toot, toot, tootsie, don’t cry. In Ohio– es wurde dunkel und die Lichter in den traurigen, kleinen, weit voneinander entfernt liegenden Häusern gingen an– fühlte ich mich endlich sicher genug einzudösen, schlief mit hin und her sackendem Kopf bis Cleveland, einer kalten, weiß erleuchteten Stadt, wo ich um zwei Uhr morgens umstieg. Ich traute mich nicht, mit Popper den langen Spaziergang zu machen, den er brauchte, weil ich Angst hatte, dass uns jemand sehen könnte (denn was sollten wir bloß machen, wenn wir ertappt wurden? Für immer in Cleveland bleiben?). Auch er wirkte ängstlich, also standen wir zehn Minuten zitternd auf der Straße, bevor ich ihm ein bisschen Wasser gab, ihn wieder in die Tasche steckte und zurück zum Busbahnhof ging, um einzusteigen.
    Es war mitten in der Nacht, offenbar schliefen alle, was das Umsteigen erleichterte. Am nächsten Mittag wechselten wir in Buffalo erneut den Bus, der sich durch vor dem Bahnhof aufgetürmten Schneematsch kämpfte. Der Wind war beißend mit einer stechenden kalten Feuchtigkeit; nach zwei Jahren in der Wüste hatte ich vergessen, wie sich ein richtiger Winter anfühlte– schmerzhaft und rau. Boris hatte keine meiner SMS erwidert, was vielleicht verständlich war, da ich sie an Kotkus Handy schickte, aber ich schickte trotzdem eine weitere:

    Buffalo ist ein gutes Stück entfernt von New York City, aber bis auf einen fiebrigen, traumartigen Zwischenstopp in Syracuse, wo ich Popper ausführte, ihm Wasser gab und uns beiden Blätterteigteilchen mit Käse kaufte, weil es nichts anderes gab– schaffte ich es, fast die gesamte Strecke durch Batavia, Rochester, Syracuse und Binghamton zu schlafen, die Wange an die Fensterscheibe gelegt, durch deren Spalt kalte Luft strömte, während die Vibration mich zurück zu Wind, Sand und Sterne und einem einsamen Cockpit hoch über der Wüste trug.
    Ich glaube, seit dem Halt in Cleveland muss ich unmerklich immer kränker geworden sein, denn als ich schließlich am Port Authority Terminal aus dem Bus stieg, brannte mein Körper vor Fieber. Mich fröstelte, meine Knie waren weich, und die Stadt– nach der ich mich so heftig gesehnt hatte– wirkte fremd, lärmend und kalt, Abgase, Müll und Fremde, die in allen Richtungen an mir vorbeihasteten.
    Im Terminal wimmelte es von Bullen. Wohin ich auch blickte, sah ich Plakate für Obdachlosenasyle, Sorgentelefone für Ausreißer, und am Ausgang wurde ich eingehend von einer Polizistin beobachtet– nach gut sechzig Stunden im Bus war ich müde und schmutzig und wusste, dass ich eine Musterung eigentlich nicht bestand–, doch niemand hielt mich auf, und ich sah mich nicht um, bis ich durch die Tür und ein gutes Stück vom Busbahnhof entfernt war. Diverse Männer unterschiedlichen Alters und verschiedener Nationalität riefen mir auf der Straße etwas zu, sanfte Stimmen drangen aus allen Richtungen an mein Ohr ( Hey, kleiner Bruder? Wo willst du hin? Soll ich dich mitnehmen? ), doch obwohl besonders ein rothaariger Typ normal, nett und kaum älter als

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