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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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beschloss ich, vorwärtszukriechen in der Hoffnung, dass sich vor mir wieder ein Raum auftun würde, und bald rutschte ich Zentimeter für Zentimeter unter Schmerzen voran, niedergeschmettert und verzweifelt, den Kopf scharf zur Seite gedreht.
    Mit ungefähr vier Jahren war ich in unserem alten Apartment in der Seventh Avenue mal halb in einem Wandbett eingeklemmt, was nach einem lustigen Dilemma klingt, aber eigentlich keins war: Ich glaube, ich wäre erstickt, wenn Alameda, unsere Haushälterin, meine gedämpften Schreie nicht gehört und mich herausgezogen hätte. Das Manövrieren in dieser luftlosen Höhle war irgendwie ähnlich, nur schlimmer, denn hier war Glas, heißes Metall, der Gestank von verbrannten Kleidern, und ab und zu drückte ich gegen etwas Weiches, über das ich nicht weiter nachdenken wollte. Schwer prasselte es von oben auf mich herab; meine Kehle füllte sich mit Staub, und ich hustete stark und geriet allmählich in Panik, als mir bewusst wurde, dass ich– wenn auch nur schemenhaft– die raue Oberfläche der geborstenen Steine um mich herum sehen konnte. Licht– ein kaum wahrnehmbarer, matter Schimmer– kroch zart von links heran, vielleicht zwei Handbreit über dem Boden.
    Ich duckte mich tiefer, und unversehens schaute ich über den matten Terrazzo-Boden der nächsten Galerie. Ein ungeordneter Berg von– wie es aussah– Rettungsgeräten (Seile, Äxte, Stemmeisen, eine Sauerstoffflasche mit der Aufschrift FDNY ) lag auf dem Boden.
    » Hallo? « , rief ich– aber ohne auf eine Antwort zu warten, drückte ich mich an den Boden, um so schnell wie möglich durch die Öffnung zu robben.
    Wäre ich ein paar Jahre älter oder ein paar Pfund schwerer gewesen, hätte ich vielleicht nicht hindurchgepasst. Auf halber Strecke blieb mein Beutel irgendwo hängen, und einen Moment lang dachte ich, ich müsste mich– Bild hin, Bild her– von ihm befreien wie eine Eidechse, die den Schwanz zurücklässt, aber als ich noch einmal daran zerrte, löste der Beutel sich, und Putzbröckchen regneten auf mich herab. Über mir war so etwas wie ein Balken, der anscheinend eine Menge Trümmer stützte, und als ich mich unter Verrenkungen darunter hindurchwand, wurde mir schwindlig vor Angst, er könnte wegrutschen und mich in zwei Teile zerhacken, aber dann sah ich, dass jemand ihn mit einer Art Wagenheber abgestützt hatte.
    Als ich draußen war, rappelte ich mich auf, mit wackligen Knien und wie betäubt vor Erleichterung. » Hallo? « , rief ich noch einmal und fragte mich, warum hier so viele Gerätschaften lagen, aber kein Feuerwehrmann zu sehen war. Der Raum war halb dunkel, aber großenteils unbeschädigt. In der Luft hingen feine Rauchschleier, die dichter wurden, je höher sie stiegen, aber an den Scheinwerfern und Überwachungskameras, die verdreht zur Decke gerichtet waren, konnte man sehen, dass irgendeine gewaltige Kraft durch die Galerie gefahren war. Ich war so froh, wieder freie Fläche um mich zu haben, dass es einen Augenblick dauerte, bis mir klar wurde, wie merkwürdig es war, in einem Raum voller Menschen als Einziger aufrecht dazustehen. Alle außer mir lagen auf dem Boden.
    Ich sah mindestens ein Dutzend Leute– nicht alle unversehrt. Sie sahen aus, als wären sie aus großer Höhe herabgestürzt. Drei oder vier Gestalten waren mit Feuerwehrjacken zugedeckt, aber ihre Füße ragten hervor. Andere waren deutlich sichtbar der Länge nach hingefallen, umgeben von explosionsförmigen Flecken. In den hingeklatschten Spritzern lag Gewalt wie in einem machtvoll blutigen Niesen, ein hysterisches Gefühl von Bewegung in der Stille. Besonders erinnere ich mich an eine Lady mittleren Alters in einer blutverschmierten Bluse, die mit Fabergé-Eiern gemustert war und wirklich aussah, als stammte sie aus dem Museumsshop. Ihre mit schwarzem Make-up umrandeten Augen schauten ausdruckslos zur Decke, und ihre Sonnenbräune war offensichtlich aufgesprüht, denn ihre Haut hatte einen gesunden, aprikosenfarbenen Glanz, obwohl ihre Schädeldecke verschwunden war.
    Halbdunkle Ölfarben, stumpfe Vergoldung. Mit winzigen Schritten ging ich bis in die Mitte des Raumes, schwankend und ein bisschen aus dem Gleichgewicht. Ich hörte mich selbst rasselnd ein- und ausatmen; es klang seltsam flach und albtraumhaft leicht. Ich wollte nicht hinschauen und musste es doch. Ein schmächtiger Asiate, kläglich in seiner hellbraunen Windjacke, lag zusammengekrümmt in einer bauchigen Blutlache. Einem Museumswärter (die

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