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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Gründen Dollybird genannt hatte), sogar Mr. Barbour war immer eilig aufgesprungen, wenn sie mich nach einer Übernachtung abholte, hatte freigiebig gelächelt und ihren Ellenbogen gefasst, wenn er sie zum Sofa führte, sein Ton leise und umgänglich, wollen Sie nicht Platz nehmen, möchten Sie etwas zu trinken, eine Tasse Tee vielleicht, irgendwas? Ich glaubte nicht, dass ich mir eingebildet hatte– nicht nur jedenfalls–, wie eindringlich Mr. Bracegirdle mich betrachtete, beinahe so, als würde er sie ansehen oder in meinem Gesicht nach einer Spur von ihr suchen. Aber selbst im Tod war mein Dad nicht auszuradieren, sosehr ich versucht hatte, ihn aus dem Bild zu wünschen– denn er war immer da, in meinen Händen, meiner Stimme und meinem Gang, meinem verstohlenen Seitenblick, wenn ich mit Hobie ein Restaurant verließ und meine ganze Kopfhaltung an seine alte eitle Angewohnheit erinnerte, sich in jeder spiegelnden Oberfläche prüfend zu mustern.
    IX
    Im Januar hatte ich meine Prüfungen: die leichte und die schwierige. Die leichte fand im Klassenraum einer Highschool in der Bronx statt: schwangere Mütter, diverse Taxifahrer und eine schnatternde Schar von Grand-Concourse-Homegirls mit kurzen Felljäckchen und glitzernden Fingernägeln. Aber der Test war in Wahrheit nicht so leicht wie vermutet, mit sehr viel mehr Fragen über arkane Angelegenheiten der Regierung des Staates New York, als ich erwartet hatte (wie viele Monate im Jahr tagte die gesetzgebende Versammlung in Albany? Woher zum Teufel sollte ich das wissen?), sodass ich deprimiert und in Gedanken versunken mit der U-Bahn nach Hause fuhr. Und der schwierige Test (abgeschlossenes Klassenzimmer, nervöse Eltern, die sich in den Fluren drängelten, die angespannte Atmosphäre eines Schachturniers) war offenbar für hyperaktive menschenscheue MIT -Sprösslinge konzipiert worden, jede Menge Multiple-Choice-Antworten, die sich so ähnlich waren, dass ich buchstäblich ahnungslos war, wie ich abgeschnitten hatte.
    Na und, sagte ich mir auf dem Weg die Canal Street hinunter zur U-Bahn-Station, die Hände in den Taschen, die Achselhöhlen nach Klassenzimmerschweiß stinkend. Vielleicht schaffte ich es nicht in das Early-College-Programm– und was dann? Ich musste gut abschneiden, sehr gut, in den oberen dreißig Prozent, wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte.
    Hybris: ein Wort, das häufig in den Vorbereitungstests aufgetaucht, dann aber in der eigentlichen Prüfung doch nicht vorgekommen war. Ich kämpfte mit fünftausend Bewerbern um einen von ungefähr dreihundert Plätzen– ich wusste nicht, was passieren würde, wenn ich den Schnitt nicht schaffte. Ich glaubte nicht, dass ich es ertragen würde, in Massachusetts bei diesen Ungerers zu leben, von denen Mr. Bracegirdle dauernd sprach, diesem aufrichtig guten Direktor und seiner » Mannschaft « , wie Mr. Bracegirdle sie nannte: Mom und drei Jungen, die ich mir als aufsteigende Reihe der gleichen pfannkuchengesichtigen, bleich lächelnden Internats-Rabauken vorstellte, die Andy und mich in den schlechten alten Zeiten mit fröhlicher Regelmäßigkeit verprügelt und gezwungen hatten, Wollmäuse vom Boden zu essen. Aber wie konnte ich es, wenn ich bei dem Test durchfiel (oder genauer gesagt, nicht gut genug abschnitt, um es in das Early-College-Programm zu schaffen), einrichten, dass ich in New York bleiben durfte? Ich hätte mir besser ein erreichbareres Ziel stecken sollen, irgendeine vernünftige Highschool in der City, bei der ich eine Chance hatte angenommen zu werden. Aber Mr. Bracegirdle hatte so beharrlich von diesem Internat geschwärmt, frische Luft, Herbstfarben, sternklarer Himmel und die vielen Freuden des Landlebens ( » Stuyvesant? Warum würdest du hierbleiben und auf die Stuyvesant High School gehen wollen, wenn du ganz aus New York rauskommen kannst? Ein bisschen die Beine ausstrecken, freier atmen? In einem familiären Umfeld leben? « ), dass ich Highschools, sogar die allerbesten, weiträumig gemieden hatte.
    » Ich weiß, was deine Mutter für dich gewollt hätte « , sagte er mehrfach. » Sie hätte sich einen Neuanfang für dich gewünscht. Raus aus der Stadt. « Und er hatte recht. Aber wie konnte ich ihm erklären, dass diese alten Wünsche in der Kette von Unordnung und Sinnlosigkeit, die auf ihren Tod folgte, bedeutungslos waren?
    Immer noch in Gedanken bog ich um die Ecke zur U-Bahn-Station und fischte gerade die MetroCard aus der Tasche, als mir an einem Zeitungsstand

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