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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Uniform war noch am besten erkennbar, denn sein Gesicht war schwarz verbrannt) war der Arm auf den Rücken verrenkt, und wo das Bein hätte sein sollen, war nur ein bösartig versprühter Fleck.
    Aber die Hauptsache, das Wichtigste: Keiner der hier liegenden Menschen war sie. Ich zwang mich, sie alle anzusehen, jeden Einzelnen, einen nach dem andern– und auch wenn ich mich nicht dazu durchringen konnte, ihre Gesichter anzuschauen, kannte ich doch die Füße meiner Mutter, ihre Kleidung, ihre zweifarbig schwarzweißen Schuhe–, und lange nachdem ich mich vergewissert hatte, zwang ich mich, inmitten von ihnen stehen zu bleiben, zusammengekauert wie eine kranke Taube, mit geschlossenen Augen.
    In der nächsten Galerie: weitere Tote. Drei. Ein dicker Mann in einer traditionellen schottischen Weste. Eine alte Lady mit Mundgeschwüren. Ein milchweißes Entenküken von einem Mädchen mit einer roten Schürfwunde an der Schläfe, aber sonst praktisch unversehrt. Danach kamen keine mehr. Ich ging durch mehrere Räume voller Geräte (und Blutflecken auf den Böden), aber ohne Tote. Und als ich die weit abgelegen erscheinende Galerie betrat, in der sie gewesen, in die sie gegangen war, die Galerie mit der Anatomiestunde – ich schloss die Augen in meinem inständigen Wunsch–, standen da nur wieder die gleichen Tragen und Gerätschaften herum, und als ich den Raum in der seltsam schreienden Stille durchquerte, starrten mir nur wieder dieselben zwei Augenpaare entgegen, die der beiden verblüfften Holländer an der Wand: Was tust du denn hier?
    Dann zerbrach etwas in mir. Ich weiß nicht einmal mehr, wie es passierte– ich war nur woanders und rannte, ich rannte durch Räume, die leer waren bis auf den Rauchnebel, der die ganze Pracht stofflos und unwirklich aussehen ließ. Vorher waren mir die Galerien ziemlich unkompliziert vorgekommen, eine mäandernde, aber logische Reihe, deren Nebenflüsse allesamt in den Museumsshop mündeten. Aber als ich jetzt schnell und in entgegengesetzter Richtung hindurchlief, erkannte ich, dass der Weg keineswegs folgerichtig war: Immer wieder lief ich gegen kahle Wände oder kam in Räume, die keinen anderen Ausgang hatten. Türen und Eingänge waren da, wo ich sie nicht erwartete, freistehende Sockel ragten aus dem Nichts herauf. Einmal bog ich zu scharf um eine Ecke und wäre beinahe geradewegs in eine Bande von Frans-Hals-Gardeoffizieren gelaufen: große, grobe, rotgesichtige Kerle, verquollen von zu viel Bier, wie New Yorker Cops auf einer Kostümparty. Kalt starrten sie mich an, ihr Blick hart und amüsiert, während ich mich wieder fasste, zurückwich und weiterrannte.
    Selbst an guten Tagen verlor ich im Museum manchmal die Orientierung (ich wanderte ziellos in die Räume der Ozeanischen Kunst mit Totempfählen und Einbaumkanus), und dann musste ich einen Wärter nach dem Weg zum Ausgang fragen. Die Gemäldegalerien waren besonders verwirrend, weil sie so oft neu gehängt wurden, und als ich im gespenstischen Zwielicht durch die leeren Korridore rannte, wurde meine Angst immer größer. Ich hatte geglaubt, den Weg zur Haupttreppe zu kennen, aber kurz nachdem ich die Galerien der Sonderausstellung verlassen hatte, sah alles unbekannt aus; nachdem ich eine oder zwei Minuten lang mit Schwindel im Kopf um Ecken gelaufen war, die mir nicht vertraut vorkamen, wurde mir klar, dass ich mich gründlich verlaufen hatte. Irgendwie war ich geradewegs durch die italienischen Meisterwerke gelaufen (gekreuzigte Christusgestalten, staunende Heilige, Schlangen und kämpfende Engel) und im England des 18.Jahrhunderts gelandet, in einem Teil des Museums, in dem ich erst selten gewesen war und den ich gar nicht kannte. Lange, elegante Blickachsen erstreckten sich vor mir, labyrinthische Gänge mit der Atmosphäre einer Spukvilla, perückentragende Lords und kühle Gainsborough-Schönheiten, die hochmütig auf meine Not herabstarrten. Die feudalen Ausblicke trieben mich zur Raserei, denn sie führten offenbar weder zur Treppe noch zu einem der Hauptkorridore, sondern immer nur zu weiteren Galerien von feudaler Pracht wie die vorigen, und ich war den Tränen nahe, als ich plötzlich eine unauffällige Tür in einer Seitenwand entdeckte.
    Man musste zweimal hinschauen, um sie zu sehen, diese Tür. Sie war in der gleichen Farbe gestrichen wie die Wand, eine Tür, die aussah, als würde sie unter normalen Umständen stets verschlossen gehalten. Sie fiel mir überhaupt nur deshalb auf, weil sie am linken Rand

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