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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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freudig und sadistisch– an offene Folter gegrenzt: in Andys Essen spucken, ja, seine Spielsachen zerstören, aber auch tote Guppys aus dem Aquarium oder Obduktionsfotos aus dem Internet auf sein Kopfkissen legen, die Decke wegziehen und ihn anpinkeln, während er schlief (um dann zu rufen, Android hat ins Bett gemacht ). Seinen Kopf in der Badewanne Abu-Ghraib-mäßig unter Wasser zu drücken, ihn mit dem Gesicht in den Sandkasten auf dem Spielplatz zu pressen, bis er weinte und kaum noch Luft bekam. Ihm den Inhalator über den Kopf halten, während er keuchte und flehte, und ihn foppen: Haben wollen? Haben wollen? Außerdem eine grässliche Geschichte über Platt und einen Gürtel, den Speicher irgendeines Hauses auf dem Land, gefesselte Hände, eine provisorische Schlinge: schiere Gemeinheit. Er hätte mich umgebracht, hörte ich Andy in der Erinnerung mit seiner distanzierten, emotionslosen Stimme erzählen, wenn die Babysitterin nicht mitbekommen hätte, wie ich auf den Boden getrampelt habe.
    Ein leichter Frühlingsregen klopfte an die Fenster der Bar. Platt blickte in sein leeres Glas und wieder auf.
    » Komm kurz mit zu Mutter « , sagte er. » Ich weiß, dass sie dich unbedingt sehen will. «
    » Jetzt? « , fragte ich, als mir klar wurde, dass er sofort meinte.
    » Oh, bitte. Wenn nicht jetzt, dann später. Versprich es nicht nur, wie wir es alle auf der Straße unverbindlich tun. Es würde ihr so viel bedeuten. «
    » Na ja… « Nun blickte ich auf die Uhr. Ich hatte noch ein paar Erledigungen zu machen, genau genommen hatte ich viel um die Ohren, etliche überaus drängende eigene Sorgen, doch es wurde langsam spät, der Wodka hatte mich benebelt, der Nachmittag war verflogen.
    » Bitte « , sagte er und hob die Hand, um die Rechnung zu verlangen. » Sie wird mir nie verzeihen, wenn sie erfährt, dass ich dich getroffen und wieder habe gehen lassen. Komm doch auf einen Sprung mit rüber. «
    III
    In den Flur zu kommen war wie durch ein Portal zurück in die Vergangenheit zu treten: Chinesisches Porzellan, angestrahlte Landschaftsbilder, gedimmte Lampen mit Seidenschirm, alles genau so wie an dem Abend nach dem Tod meiner Mutter, als Mr. Barbour die Tür geöffnet hatte.
    » Nein, nein « , sagte Platt, als ich aus Gewohnheit auf den Bullaugenspiegel zu und weiter ins Wohnzimmer gehen wollte. » Hier hinten. « Er ging zur Rückseite der Wohnung. » Bei uns ist jetzt alles sehr informell– Mommy empfängt ihre Leute normalerweise hier, wenn sie überhaupt jemanden trifft… «
    Damals war ich nie auch nur in die Nähe von Mrs. Barbours innerem Heiligtum gekommen, doch als wir den Flur hinuntergingen, wehte uns der Duft ihres Parfüms entgegen– unverkennbar, weiße Blüten mit einer staubigen Fremdheit im Herzen– wie Gardinen vor einem offenen Fenster.
    » Sie geht nicht mehr in dem Maße aus wie früher « , sagte Platt leise. » Keine großen Dinnerpartys und Galas mehr– vielleicht empfängt sie einmal die Woche jemanden auf eine Tasse Tee oder isst mit einer Freundin zu Abend. Aber das ist auch schon alles. «
    Platt klopfte, lauschte. » Mommy? « , rief er und öffnete– auf eine undeutliche Antwort hin– die Tür einen Spalt. » Ich habe Besuch für dich. Du rätst nie, wen ich auf der Straße gefunden habe… «
    Es war ein riesiges Zimmer, in altdamenhaftem 80er-Jahre-Apricot tapeziert. Direkt neben der Tür stand eine Sitzgruppe mit einem Sofa und Polstersesseln– jede Menge Zierrat, Stickkissen, neun oder zehn Zeichnungen alter niederländischer Meister: die Flucht nach Ägypten, Jakob und der Engel, die meisten vermutlich aus dem Rembrandtkreis, obwohl es eine winzige Braune-Tuschfeder-über-Bleistift-Zeichnung von Christi Fußwaschung des Heiligen Petrus gab, die mit so sicherer Hand ausgeführt war (die Rückenansicht des erschöpft gebückten Christus und der Faltenwurf seines Gewands, die komplexe Traurigkeit im Gesicht des Heiligen Petrus), dass sie auch von Rembrandt selbst stammen könnte.
    Ich beugte mich vor, um sie genauer zu betrachten, als auf der anderen Seite des Zimmers eine Lampe mit pagodenförmigem Schirm anging. » Theo? « , hörte ich sie fragen, und da war sie, auf einen Haufen Kissen gestützt in einem ungewöhnlich großen Bett.
    » Du? Ich glaube es nicht! « , sagte sie und streckte die Arme aus. » Du bist erwachsen geworden! Wo um alles in der Welt hast du gesteckt? Lebst du jetzt wieder in der Stadt? «
    » Ja. Ich bin schon eine Weile wieder hier. Sie

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