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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Hunde, kleine Kinder, schwatzende und zuschauende und Päckchen schleppende Menschen, Clowns mit Zylindern und Militärmänteln und ein kleiner tanzender Narr in Weihnachtskleidung wie auf einem Avercamp-Gemälde. Ich war immer noch nicht ganz wach, und nichts von all dem erschien mir realer als der flüchtige Traum von Pippa im Flugzeug, in dem ich sie in einem Park gesehen hatte, mit vielen hohen Springbrunnen und einem Planeten mit Saturn-Ringen, der tief und majestätisch am Himmel schwebte.
    » Nieuwmarkt « , sagte Juri, als wir zu einem großen Platz mit einem vieltürmigen Märchenschloss kamen, umgeben von Marktständen mit schneebestäubten Tannenzweigen und vor sich hin stapfenden Händlern mit Fausthandschuhen– eine Illustration aus einem Kinderbuch. » Ho, ho, ho. «
    » Immer viel Polizei hier « , sagte Boris düster und rutschte gegen die Wagentür, als Juri scharf um die Ecke bog.
    Aus verschiedenen Gründen machte ich mir Sorgen wegen unserer Unterkunft und hielt schon allerlei Ausreden bereit für den Fall, dass unter Hausbesetzerbedingungen auf dem Boden geschlafen werden sollte oder Ähnliches geplant war. Zum Glück hatte Myriam mir ein Hotelzimmer in einem Grachtenhaus in der Altstadt gebucht. Ich stellte dort meine Tasche ab, legte das Geld in den Safe und ging wieder hinaus auf die Straße zu Boris. Juri war weggefahren, um das Auto zu parken.
    Boris warf seine Zigarette auf das Kopfsteinpflaster und zertrat sie mit dem Absatz. » Ich war länger nicht hier « , sagte er, und sein Atem kam in weißen Wolken, als er sich umschaute und die nüchtern gekleideten Fußgänger auf der Straße taxierte. » Meine Wohnung in Antwerpen– na ja, in Antwerpen bin ich aus geschäftlichen Gründen. Auch eine schöne Stadt– die gleichen Seewolken, das gleiche Licht. Eines Tages fahren wir mal hin. Aber ich vergesse immer, wie gut es mir hier gefällt. Habe ich Mordshunger– und du? « Er boxte mich auf den Arm. »Gehen wir ein Stück? «
    Wir wanderten durch schmale Straßen, feuchte Gassen, zu eng für Autos. Dunstige kleine, ockergelb leuchtende Läden mit alten Drucken und verstaubtem Porzellan. Eine Kanalbrücke: braunes Wasser, eine einsame braune Ente. Ein Plastikbecher, halb untergetaucht dümpelnd. Der Wind war rau und nass und wehte mir nadelspitze Graupelkörner ins Gesicht, und der Raum um uns herum war eng und feuchtkalt. » Frieren die Grachten im Winter nicht zu? « , fragte ich.
    » Doch, aber « , er wischte sich über die Nase, » globale Erwärmung, nehme ich an. « In Mantel und Anzug von der Party des vergangenen Abends wirkte er völlig deplatziert und völlig heimisch zugleich. » Was für ein Hundewetter. Gehen wir hier rein? Was meinst du? «
    Die schmuddelige Bar (das Café oder was es sonst sein mochte) an der Gracht war mit dunklem Holz und maritimen Objekten eingerichtet– Ruder, Rettungsringe–, rote Kerzen flackerten matt trotz der Tageszeit, und die Atmosphäre war neblig und trostlos. Rauchiges, dumpfes Licht. Kondenswassertropfen an der Fensterscheibe. Keine Speisekarte. Auf eine Schiefertafel an der hinteren Wand gekritzelt standen Speisen, unter denen ich mir nichts vorstellen konnte: dagsoep, draadjesvlees, kapucijnerschotel, zuurkoolstamppot.
    » Komm, lass mich bestellen « , sagte Boris und tat es überraschenderweise auf Holländisch. Was kam, war eine typische Boris-Mahlzeit: Bier, Brot, Kartoffeln mit Würsten, Schweinefleisch und Sauerkraut. Boris erging sich– vergnügt schlingend– in Erinnerungen an seinen ersten und einzigen Versuch, in dieser Stadt Fahrrad zu fahren (Fehlschlag, Katastrophe), und daran, wie gern er die neuen Matjesheringe in Amsterdam mochte, die aber jetzt keine Saison hatten– zum Glück, da man sie offenbar aß, indem man sie an der Schwanzflosse hielt und in den Mund baumeln ließ. Aber ich war durch die Umgebung zu desorientiert, um aufmerksam zuzuhören, und mit beinahe schmerzhaft geschärften Sinnen stocherte ich mit der Gabel in dem Kartoffelmatsch und spürte, wie die Fremdheit der Stadt auf mich eindrang, der Geruch von Tabak und Malz und Muskat, die Wände des Cafés, melancholisch braun wie ein altes, ledergebundenes Buch, und draußen die dunklen Durchgänge und das brackige, plätschernde Wasser, ein niedriger Himmel und alte Häuser, aneinandergelehnt, düster, poetisch, am Rand des Verfalls, die kopfsteingepflasterte Einsamkeit einer Stadt, die– mir jedenfalls– erschien wie ein Ort, an den man kam, um das Wasser

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