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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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über seinem Kopf war der ruhende Punkt, um den sich alles drehte: Träume und Zeichen, Vergangenheit und Zukunft, Glück und Schicksal. Da gab es nicht nur eine einzige Bedeutung. Es gab viele Bedeutungen. Es war ein Rätsel, das sich ausdehnte, weiter und weiter und immer weiter.
    Hobie räusperte sich. » Darf ich was fragen? «
    » Natürlich. «
    » Wie hast du es aufbewahrt? «
    » In einem Kissenbezug. «
    » Baumwolle? «
    » Na ja– ist Perkalin Baumwolle? «
    » Kein Polster? Nichts, das es geschützt hätte? «
    » Nur Papier und Klebstreifen. Yep « , sagte ich, als sein Blick vor Schreck verschwamm.
    » Du hättest Glassin und Luftpolsterfolie nehmen müssen! «
    » Jetzt weiß ich das auch. «
    » Entschuldige. « Er verzog schmerzlich berührt das Gesicht und legte eine Hand an die Schläfe. » Ich versuche immer noch, es zu begreifen. Du bist mit diesem Bild im aufgegebenen Gepäck mit Continental Airlines geflogen? «
    » Ich sage doch, ich war dreizehn. «
    » Warum hast du mir nichts gesagt? Das hättest du doch tun können « , sagte er, als ich den Kopf schüttelte.
    » Ja sicher « , sagte ich ein bisschen vorschnell, obwohl ich mich noch genau an die Ausgrenzung erinnerte und die Angst jener Zeit, an meine ständige Angst vor dem Jugendamt, an den schweren Seifengeruch meines nicht abschließbaren Zimmers, an die drastische Kälte des steingrauen Empfangsbereichs, wo ich auf Mr. Bracegirdle wartete, an meine Angst davor weggeschickt zu werden.
    » Ich hätte mir etwas einfallen lassen. Allerdings, als du hier gelandet bist, obdachlos, wie du warst… na, ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich es so sage, aber selbst dein eigener Anwalt– na, du weißt es ja genauso gut wie ich, die Situation machte ihn nervös, und er war ziemlich erpicht darauf, dich von hier wegzuschaffen, und auf meiner Seite das Gleiche, etliche alte Freunde sagten: › James, das ist absolut zu viel für dich… ‹ , aber na ja, du kannst verstehen, warum sie das dachten « , fügte er eilig hinzu, als er mein Gesicht sah.
    » O ja, natürlich. « Die Vogels, die Grossmans, die Mildebergers hatten es trotz aller Höflichkeit auch immer verstanden, wortlos (mir gegenüber, jedenfalls) ihre Philosophie des » Hobie hat wahrhaftig genug am Hals « zum Ausdruck zu bringen.
    » Auf einer Ebene war es verrückt. Ich weiß, wie es aussah. Andererseits– ja– es war eine klare Botschaft, wie Welty dich hergeschickt hatte, und da warst du dann, wie ein kleines Insekt, kamst immer wieder, immer wieder… « Er dachte einen Moment lang nach und zog die Stirn kraus, eine tiefergehende Version seines beständig sorgenvollen Gesichtsausdrucks. » Ich will dir sagen, was ich hier ein bisschen ungeschickt zu erklären versuche: Als meine Mutter gestorben ist, bin ich gegangen und gegangen, in diesem furchtbar sich hinziehenden Sommer. Manchmal bin ich den ganzen Weg von Albany bis Troy zu Fuß gegangen. Hab im Regen unter den Markisen der Metallwarenhandlungen gestanden. Alles, um nicht zurück in das Haus gehen zu müssen, in dem sie nicht war. Bin durch die Gegend geweht wie ein Gespenst. Hab in der Bibliothek gesessen, bis sie mich rauswarfen, und dann hab ich mich in den Bus nach Watervliet gesetzt und bin mitgefahren, und dann bin ich wieder zu Fuß gegangen. Ich war ein großer Bengel, zwölf Jahre alt, aber so groß wie ein Mann, die Leute hielten mich für einen Landstreicher, und die Hausfrauen verjagten mich mit dem Besen von ihrer Türschwelle. Aber so bin ich bei Mrs. De Peyster gelandet– sie machte die Tür auf, als ich auf ihrer Treppe saß, und sagte: Du musst doch Durst haben, willst du nicht hereinkommen? Porträts, Miniaturen, Daguerreotypien, die alte Tante So-und-so, der alte Onkel So-und-so. Die Wendeltreppe, die herunterführte. Und da war ich– in meinem Rettungsboot. Ich hatte es gefunden. Manchmal musste man sich in diesem Haus kneifen, um sich daran zu erinnern, dass man nicht im Jahr 1909 lebte. Ein paar der schönsten Objekte der amerikanischen Klassik, die ich bis heute gesehen habe, und– mein Gott, dieses Tiffany-Glas, das war in der Zeit, bevor Tiffany etwas so Besonderes war, die Leute interessierten sich nicht dafür, es war nicht das Ding, wahrscheinlich erzielte man in der Großstadt schon hohe Preise, aber in Trödelläden auf dem Land kriegte man es damals praktisch umsonst. Bald fing ich an, selbst durch diese Trödelläden zu stöbern. Aber das dort, das war alles ererbter

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