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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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wieder auftauchen,
    Sie sind unsterblich, all diese Sterne silbern und golden werden wieder scheinen.
    Leere Gesichter. So spät am Nachmittag war die Luft im Klassenzimmer heiß und einschläfernd; die Fenster standen offen, und der Verkehrslärm von der West End Avenue wehte herein. Die Schüler stützten sich auf die Ellenbogen und malten Bilder an den Rand ihrer Spiralblocks.
    Ich starrte aus dem Fenster, hinüber zu dem schmutzigen Wassertank auf dem Dach gegenüber. Das Verhör (wie ich es empfand) hatte mich gründlich verstört und einen ganzen Wall aus den unzusammenhängenden Empfindungen aufgetürmt, die in unerwarteten Augenblicken über mich hereinbrachen: der die Kehle zuschnürende Rauch brennender Chemikalien, Funken und Elektrokabel, die fahle Kälte der Notbeleuchtung, alles so übermächtig, dass es mich ausschalten konnte. Es passierte zufällig, in der Schule oder draußen auf der Straße– und ich erstarrte jäh, wenn es wieder über mich hinwegbrandete: die Augen des Mädchens, fest auf meine gerichtet in diesem eigenartigen, schiefen Moment, bevor die Welt auseinanderflog. Manchmal kam ich wieder zu mir und wusste erst nicht genau, was jemand gerade zu mir gesagt hatte; dann starrte mein Laborpartner in Biologie mich an, oder der Typ, dem ich im koreanischen Supermarkt den Weg zum Getränkekühlschrank versperrte, sagte: Hey, Kleiner, beweg dich, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.
    Und liebstes Kind, trauerst du nur um Jupiter?
    Denkst du nur an das Grab der Sterne?
    Sie hatten mir kein Foto gezeigt, auf dem ich das Mädchen erkannte– und auch keins von dem alten Mann. Unauffällig schob ich die linke Hand in meine Jackentasche und tastete nach dem Ring. Auf unserer Vokabelliste hatten wir vor ein paar Tagen das Wort Konsanguinität gehabt: Blutsverwandtschaft. Das Gesicht des alten Mannes war so zerrissen und zerstört gewesen, dass ich sein Aussehen nicht mehr genau hätte beschreiben können, und doch erinnerte ich mich nur allzu gut an das warme, glitschige Gefühl seines Blutes an meinen Händen– zumal das Blut in gewisser Weise noch da war. Ich konnte es immer noch riechen und schmeckte es in meinem Mund, und plötzlich verstand ich, warum man von Blutsbrüdern sprach und behauptete, Blut verbinde die Menschen miteinander. Im Herbst hatten wir im Englischunterricht Macbeth gelesen, aber erst jetzt leuchtete mir allmählich ein, warum Lady Macbeth es nie schaffte, sich das Blut von den Händen zu schrubben, und warum es immer noch da war, nachdem sie es abgewaschen hatte.
    X
    Weil ich Andy anscheinend manchmal weckte, weil ich mich im Schlaf hin und her warf und schrie, hatte Mrs. Barbour angefangen, mir eine kleine grüne Tablette namens Elavil zu geben: Die würde verhindern, dass ich nachts Angst bekäme, erklärte sie. Es war mir peinlich, vor allem weil meine Träume nicht einmal ausgewachsene Albträume waren, sondern nur unruhige Zwischenspiele, in denen meine Mutter Überstunden machen musste und dann ohne Fahrgelegenheit irgendwo gestrandet war– manchmal in Upstate New York, in irgendeiner ausgebrannten Gegend mit Schrottautos und kläffenden Kettenhunden in den Höfen. Voller Unbehagen suchte ich sie in Lastenaufzügen und verlassenen Gebäuden, ich wartete auf sie im Dunkeln an der Bushaltestelle, sah Frauen, die ihr ähnelten, in den Fenstern vorüberfahrender Züge und war eine Sekunde zu spät am Telefon, als sie mich bei den Barbours anrief. Lauter Enttäuschungen und knapp verpasste Chancen, die mich umtrieben und mit einem scharfen zischenden Atemgeräusch aufwachen ließen, sodass ich mit flauem Magen und nassgeschwitzt im Morgenlicht lag. Das Schlimme daran war nicht, sie dauernd zu suchen, sondern aufzuwachen und mich zu erinnern, dass sie tot war.
    Die grünen Tabletten ließen selbst diese Träume im luftlosen Dunkel verblassen. (Heute wird mir klar, was ich damals nicht ahnte: dass Mrs. Barbour die Grenzen ihrer Zuständigkeit weit überschritt, als sie mir zusätzlich zu den gelben Kapseln und den winzigen orangefarbenen Fußbällen, die Dave, der Psychiater, mir verschrieben hatte, nicht verordnete Medikamente verabreichte.) Wenn der Schlaf kam, war es, als stürzte ich in eine Grube, und oft konnte ich morgens kaum aufwachen.
    » Schwarzer Tee, das ist das Rezept « , sagte Mr. Barbour eines Morgens, als ich beim Frühstück einnickte, und schenkte mir eine Tasse aus seiner eigenen, gut durchgezogenen Kanne ein. » Assam Supreme. So stark, wie Mutter ihn

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