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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Nippes polierte, während Kitsey auf der anderen Seite vor dem Computer saß, fest entschlossen, mich nicht mal anzuschauen.
    » Wen rufst du an? « , fragte Andy, der nach Art seiner ganzen Familie so leise hinter mir aufgetaucht war, dass ich ihn nicht gehört hatte.
    Vielleicht hätte ich ihm nichts erzählt, aber ich wusste, ich konnte darauf vertrauen, dass er den Mund hielt. Andy redete mit niemandem, schon gar nicht mit seinen Eltern.
    » Diese Leute « , sagte ich leise und trat einen Schritt zurück, damit man mich von der Tür aus nicht sehen konnte. » Ich weiß, das klingt verrückt, aber du kennst den Ring, den ich habe? «
    Ich erzählte ihm von dem alten Mann und überlegte, wie ich ihm auch von dem Mädchen erzählen sollte, von der Verbindung zu ihr, die ich gespürt hatte, und auch, wie gern ich sie wiedersehen wollte. Aber erwartungsgemäß war Andy mir längst einen Schritt voraus, weg von den persönlichen Berührungspunkten und hin zur Logistik der Situation. Er beäugte das Telefonbuch, das aufgeschlagen auf dem Tischchen lag. » Sind sie in der Stadt? «
    » In der West 10th. «
    Andy nieste und putzte sich die Nase; sein Heuschnupfen war sehr schlimm. » Wenn du sie telefonisch nicht erreichst « , er faltete sein Taschentuch zusammen und steckte es ein, » wieso fährst du dann nicht einfach hin? «
    » Wirklich? « Es kam mir schräg vor, nicht erst anzurufen, sondern gleich dort aufzukreuzen. » Meinst du? «
    » Ich würde es tun. «
    » Ich weiß nicht « , sagte ich. » Vielleicht erinnern sie sich nicht an mich. «
    » Wenn sie dich persönlich sehen, erinnern sie sich wahrscheinlich schon eher « , meinte Andy nüchtern. » Sonst könntest du ja auch irgendein Irrer sein, der da anruft und so tut, als ob. «
    » Ein Irrer? « , wiederholte ich. » Der so tut, als ob was? «
    » Na ja, ich meine, hier gibt’s eine Menge komische Leute, die einen anrufen « , sagte Andy schlicht.
    Ich schwieg und wusste nicht, was ich damit anfangen sollte.
    » Außerdem, wenn sie nicht abnehmen, was willst du sonst machen? Du würdest erst nächstes Wochenende wieder runterfahren können. Außerdem handelt es sich um ein Gespräch, das du führen willst… « Er schaute in die Diele, wo Todd mit irgendwelchen Schuhen, die mit Sprungfedern ausgestattet waren, auf und ab hüpfte, während Mrs. Barbour seinen Bruder Platt über die Party bei Molly Walterbeek ausfragte.
    Er hatte nicht unrecht. » Stimmt « , sagte ich.
    Andy schob seine Brille auf der Nase hoch; er trug sie zu Hause immer noch, aber nicht in der Schule. » Ich kann mitkommen, wenn du willst. «
    » Nein, das ist nicht nötig « , sagte ich. Andy hatte an diesem Nachmittag » Japanisches Leben « wegen der Extrapunkte, das wusste ich: Erst gingen sie mit der Gruppe ins Toraya-Teehaus, und dann würden sie sich im Lincoln Center den neuen Miyazaki ansehen. Nicht, dass Andy Extrapunkte nötig hätte, aber außer diesen Exkursionen gab es nichts in seinem Sozialleben.
    » Na, hier « , sagte er. Er wühlte in seiner Tasche und holte sein Handy heraus. » Nimm das mit. Für alle Fälle. Warte « , er tippte auf dem Display herum, » jetzt hab ich die PIN -Sperre abgeschaltet. Alles klar. «
    » Das brauche ich nicht. « Ich warf einen Blick auf das schnittige kleine Telefon mit der Anime-Figur Virtual Girl Aki (nackt, in schenkelhohen Porno-Stiefeln) auf dem Lockscreen.
    » Na, vielleicht doch. Kann man nie wissen. Mach schon « , sagte er, als ich zögerte. » Nimm es. «
    XII
    Und so kam es, dass ich gegen halb zwölf im Bus saß und die Fifth Avenue hinunter ins Village fuhr. In meiner Tasche befand sich ein Blatt aus einem der monogrammverzierten Notizblöcke, die Mrs. Barbour neben dem Telefon liegen hatte, mit der Adresse von Hobart and Blackwell.
    Am Washington Square stieg ich aus und wanderte ungefähr eine Dreiviertelstunde lang umher und suchte die Adresse. Im Village mit seinem planlosen Straßennetz (dreieckige Häuserblocks, Sackgassen, die schräg hierhin und dorthin gerichtet waren) konnte man sich leicht verirren, und ich musste dreimal Halt machen und nach dem Weg fragen– einmal in einem Zeitungsladen voller Haschischpfeifen und Schwulenpornos, einmal in einer vollen Bäckerei mit schmetternder Opernmusik, und einmal fragte ich ein Mädchen in weißem Unterhemd und Latzhose, das mit Gummiwischer und Eimer vor einer Buchhandlung stand und das Schaufenster putzte.
    Als ich die menschenleere West 10th Street schließlich

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