Der Distelfink
gefunden hatte, fing ich an, die Hausnummern abzuzählen. Ich war in einem etwas schäbigen Teil der Straße. Hier standen hauptsächlich Wohnhäuser. Ein paar Tauben stolzierten vor mir über den nassen Gehweg, zu dritt nebeneinander wie kleine, aufgeblasene Fußgänger. Viele der Hausnummern waren nicht deutlich angebracht, und ich überlegte schon, ob ich die richtige verpasst hatte und zurückgehen sollte, als ich plötzlich die Worte Hobart and Blackwell vor mir sah, säuberlich und altmodisch in einem Bogen über ein Ladenfenster gemalt. Durch die staubige Fensterscheibe sah ich Staffordshire-Porzellan-Hunde und Majolika-Katzen, verstaubtes Kristall, schwarz angelaufenes Silber, antike Sessel und Sofas mit verschossenen Brokatbezügen, einen verschnörkelten Fayence-Vogelkäfig, marmorne Miniatur-Obelisken auf der Marmorplatte eines Sockeltischchens und zwei Kakadus aus Alabaster. Es war genau der Laden, der meiner Mutter gefallen hätte: vollgestopft, ein bisschen verwahrlost, mit Stapeln von alten Büchern auf dem Boden. Aber das Gitter war heruntergelassen, und die Tür war fest verschlossen.
Die meisten Geschäfte hier öffneten nicht vor zwölf oder ein Uhr mittags. Um die Zeit totzuschlagen, spazierte ich hinüber zur Greenwich Avenue und zum Elephant & Castle, einem Restaurant, in dem meine Mutter und ich manchmal aßen, wenn wir hier unten waren. Aber kaum war ich eingetreten, begriff ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Die nicht zusammenpassenden Porzellan-Elefanten, ja, sogar die Kellnerin mit Pferdeschwanz und schwarzem T-Shirt, die mir freundlich lächelnd entgegenkam: das alles überwältigte mich. Ich sah den Ecktisch, wo meine Mutter und ich das letzte Mal zu Mittag gegessen hatten, und ich musste eine Entschuldigung murmeln und gleich wieder verschwinden.
Mit klopfendem Herzen stand ich auf dem Gehweg. Tauben flogen tief durch den rußigen Himmel. Auf der Greenwich Avenue waren nur wenige Leute unterwegs: zwei verquollene Männer, die aussahen, als hätten sie sich die ganze Nacht geprügelt, eine Frau mit wirrem Haar in einem zu großen Rollkragenpullover, die mit einem Dackel in Richtung Sixth Avenue unterwegs war. Es war ein bisschen unheimlich, allein im Village zu sein. Es war nicht die Gegend, in der man morgens am Wochenende viele Kinder auf der Straße sah; alles wirkte eher erwachsen, kompliziert, ein wenig alkoholisch. Die Leute sahen aus, als hätten sie entweder einen Kater oder wären eben erst aus dem Bett gefallen.
Weil kaum etwas offen war und weil ich mich ein bisschen verloren fühlte und nicht wusste, was ich sonst tun sollte, wanderte ich langsam zurück in Richtung Hobart and Blackwell. Wenn man von Uptown kam, sah alles im Village so klein und so alt aus. Efeu und Wein bedeckten die Fassaden, und Kräuter und Tomatenpflanzen wuchsen in Kübeln auf der Straße. Sogar die Bars hatten handgemalte Schilder wie ländliche Schankwirtschaften, Schilder mit Pferden und Katzen, Hähnen, Gänsen und Schweinen. Aber genau diese Intimität und Niedlichkeit führte dazu, dass ich mich ausgeschlossen fühlte, und so lief ich mit gesenktem Kopf an den kleinen, einladenden Haustüren vorbei und spürte genau, wie rings um mich herum im stillen Kämmerlein das Leben am Sonntagmorgen gut gelaunt seinen Lauf nahm.
Das Gitter bei Hobart and Blackwell war immer noch geschlossen. Es kam mir so vor, als sei der Laden schon seit einer ganzen Weile nicht mehr offen gewesen. Er war zu kalt, zu dunkel, und ich sah keine Spur von Vitalität oder innerem Leben wie in anderen Geschäften in dieser Straße.
Ich schaute ins Fenster und fragte mich, was ich jetzt tun sollte, als ich plötzlich eine Bewegung sah, eine große Gestalt, die hinten durch den Laden glitt. Wie gebannt blieb ich stehen. Sie bewegte sich schwerelos, wie man es von Geistern erzählt, ohne nach rechts oder links zu schauen, und verschwand im nächsten Moment vor einer Tür in der Dunkelheit.
Sie war weg. Ich wölbte die Hand um die Stirn und spähte in die finsteren, vollgestopften Tiefen des Ladens, und dann klopfte ich an die Scheibe.
Hobart and Blackwell. Läute die grüne Glocke.
Die grüne Glocke? Da war keine Glocke. Der Ladeneingang war mit einer Eisentür verschlossen. Ich ging zum Nachbarhaus– Nr. 12, ein schlichtes Gebäude mit mehreren Wohnungen– und dann zurück zu Nr. 8, einer eleganten Stadtvilla aus Sandstein. Eine Treppe führte hinauf zur Haustür, aber jetzt entdeckte ich etwas, das mir vorher
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