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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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nicht aufgefallen war: eine schmale Eingangstreppe in der Mitte zwischen 8 und 10, halb versteckt hinter einem Gestell mit altmodischen Blechmülltonnen. Vier oder fünf Stufen führten hinunter zu einer anonym aussehenden Tür, einen knappen Meter unterhalb des Gehwegs. Da war kein Schild, keine Inschrift, aber was mir ins Auge fiel, war ein helles Gelbgrün. Ein grüner Streifen Isolierband klebte unter einem Knopf an der Wand.
    Ich ging die Treppe hinunter, und ich drückte auf den Knopf und läutete. Ich zog den Kopf ein, als ich das hysterische Summen hörte (am liebsten wäre ich weggerannt), und atmete tief durch, um mir Mut zu machen. Dann– so plötzlich, dass ich zurückfuhr– öffnete sich die Tür, und ich starrte zu einer großen und unerwarteten Person hinauf.
    Er war eins fünfundneunzig bis zwei Meter groß, mindestens. Sorgenvoll, mit edler Kinnlinie, gewichtig– irgendwie erinnerte er an die antiken Fotos von irischen Dichtern und Faustkämpfern in dem Pub in Midtown, wo mein Vater gern getrunken hatte. Sein Haar war überwiegend grau und musste geschnitten werden, und seine Haut war von einem ungesunden Weiß. Die tiefen violetten Schatten um die Augen sahen aus, als sei sein Nasenbein gebrochen. Über der Kleidung trug er einen schweren Hausmantel mit Paisley-Muster und einem Revers aus Satin, der ihm fast bis zu den Knöcheln reichte und ihn in massigen Falten umfloss. Der Hauptdarsteller in einem Film aus den dreißiger Jahren hätte so etwas tragen können: verschlissen, aber immer noch eindrucksvoll.
    Ich war so überrascht, dass ich kein Wort mehr herausbrachte. In seinem Verhalten lag nichts Ungeduldiges, im Gegenteil. Seine ausdruckslosen Augen unter dunklen Lidern sahen mich an, und er wartete darauf, dass ich etwas sagte.
    » Entschuldigen Sie « , ich schluckte, meine Kehle war trocken, » ich wollte Sie nicht stören… «
    In der Stille, die jetzt folgte, blinzelte er und sah mich milde an, als wäre ihm das selbstverständlich vollkommen klar und als hätte er auch im Traum nicht damit gerechnet, dass ich ihn stören wollte.
    Ich wühlte in meiner Tasche und hielt ihm den Ring auf der flachen Hand entgegen. Sein großes, bleiches Gesicht wurde schlaff. Er starrte den Ring an, dann mich.
    » Woher hast du den? « , fragte er.
    » Er hat ihn mir gegeben « , sagte ich. » Er hat gesagt, ich soll ihn herbringen. «
    Er stand da und schaute mich durchdringend an. Einen Moment lang dachte ich, er werde jetzt sagen, er habe keine Ahnung, wovon ich redete. Dann trat er wortlos zurück und hielt mir die Tür auf.
    » Ich bin Hobie « , sagte er, als ich zögerte. » Komm herein. «

KAPITEL 4
    Morphium-Lolli

I
    Ein goldfarbenes Meer glänzte in dem schrägen Licht, das durch verstaubte Fenster hereinfiel: vergoldete Amorfiguren, vergoldete Kommoden und Stehlampen und– den Duft nach altem Holz untergrabend– der Gestank von Terpentin, Ölfarbe und Firnis. Ich folgte ihm auf einem Pfad, der in das Sägemehl gefegt war, durch die Werkstatt, vorbei an Stecktafeln und Werkzeugen, zerlegten Stühlen und Klauenfußtischen, die ihre Beine in die Luft streckten. Trotz seiner Körpermaße bewegte er sich anmutig, ein » Gleiter « , wie meine Mutter ihn bezeichnet hätte. Seine Haltung hatte etwas mühelos Schwebendes. Mein Blick richtete sich auf die Pantoffeln an seinen Füßen, als ich ihm eine schmale Treppe hinauf in ein halbdunkles Zimmer mit einem schweren Teppich folgte, wo schwarze Urnen auf Sockeln standen und die mit Troddeln geschmückten Vorhänge vor der Sonne zugezogen waren.
    Die Stille ließ mein Herz erkalten. Tote Blumen standen welk in wuchtigen chinesischen Vasen, die Abgeschlossenheit lastete überschwer auf dem Raum, und die Luft war beinahe zu abgestanden zum Atmen und fühlte sich genauso erstickend an wie die in unserer Wohnung, als Mrs. Barbour noch einmal mit mir nach Sutton Place gefahren war, um ein paar Dinge zu holen, die ich brauchte. Es war eine Stille, die ich kannte: So zog ein Haus sich in sich selbst zurück, wenn jemand gestorben war.
    Unvermittelt wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Aber der Mann– Hobie– schien meine Bedenken zu spüren, denn er drehte sich ganz plötzlich um. Er war kein junger Mann, aber er hatte immer noch ein jungenhaftes Gesicht. Seine Augen waren kindlich blau und blickten klar und verblüfft.
    » Was ist los? « , fragte er und dann: » Alles in Ordnung? «
    Seine Besorgnis machte mich verlegen. Voller Unbehagen stand ich

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