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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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doch noch lebt und sich still und leise im Krankenhaus wieder erholt.
    » Und wie kommt es, dass du den hast? «
    » Was? « Ich war erschrocken. Die Uhr, sah ich, ging total falsch: zehn Uhr morgens, zehn Uhr abends– nicht mal annähernd richtig.
    » Du sagst, er hat ihn dir gegeben? «
    Ich rutschte voller Unbehagen hin und her. » Ja. Ich… « Der Schock durch seinen Tod fühlte sich wieder neu an, als hätte ich ihn zum zweiten Mal im Stich gelassen, als passierte das Ganze noch einmal, nur in einer anderen Perspektive.
    » Er war bei Bewusstsein? Er hat mir dir gesprochen? «
    » Ja « , fing ich an und schwieg dann. Mir war elend zumute. In der Welt des alten Mannes zu sein, umgeben von seinen Sachen, hatte ihn machtvoll in die Gegenwart zurückgebracht: die traumartige Unterwasserstimmung in diesem Zimmer, die rostfarbenen Samtstoffe, die Fülle und die Stille.
    » Ich bin froh, dass er nicht allein war « , sagte Hobie. » Das wäre ihm zuwider gewesen. « Seine Finger schlossen sich um den Ring, und er hob die Faust an den Mund und sah mich an.
    » Meine Güte. Du bist noch ein Küken, was? « , sagte er.
    Ich lächelte beklommen und wusste nicht genau, wie ich antworten sollte.
    » Sorry « , sagte er, und sein Ton wurde geschäftsmäßiger. Ich wusste, das sollte mich beruhigen. » Es ist bloß– ich weiß, es war schlimm. Sein Leichnam… « Anscheinend suchte er nach Worten. » Bevor sie dich hineinrufen, machen sie sie so gut wie möglich sauber, und dann sagen sie dir, es wird nicht angenehm sein, was du natürlich schon weißt, aber– na ja. Du kannst dich auf so etwas nicht vorbereiten. Wir hatten vor ein paar Jahren einen Satz Fotos von Mathew Brady im Laden– Sachen aus dem Bürgerkrieg, so grausig, dass wir Mühe hatten, sie zu verkaufen. «
    Ich sagte nichts. Es war nicht meine Gewohnheit, etwas zu Erwachsenengesprächen beizutragen– außer ein » Ja « oder » Nein « , wenn man mich dazu aufforderte–, aber ich hörte trotzdem wie gebannt zu. Matt, ein Freund meiner Mutter, der Arzt war, hatte es übernommen, ihren Leichnam zu identifizieren, und niemand hatte mir viel darüber erzählt.
    » Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich mal gelesen habe, über einen Soldaten, war das bei Shiloh? « Er sprach mit mir, aber ich hatte nicht seine ungeteilte Aufmerksamkeit. » Oder Gettysburg? Ein Soldat, der vom Schock so sehr von Sinnen war, dass er anfing, Vögel und Eichhörnchen auf dem Schlachtfeld zu begraben. Im Kreuzfeuer ist ja eine Menge Kleinzeug getötet worden, kleine Tiere. Viele kleine Gräber. «
    » 24 000Mann starben bei Shiloh in zwei Tagen « , platzte ich heraus.
    Sein Blick kehrte erschrocken zu mir zurück.
    » 50 000 bei Gettysburg. Wegen der neuen Waffentechnik. Minié-Geschosse und Repetiergewehre. Deswegen gab es so viele Gefallene. Wir hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg Grabenkämpfe in Amerika. Die meisten Leute wissen das nicht. «
    Ich sah, dass er keine Ahnung hatte, was er damit anfangen sollte.
    » Du interessierst dich für den Bürgerkrieg? « , fragte er nach einer vorsichtigen Pause.
    » Äh, ja « , erwiderte ich schroff. » Gewissermaßen. « Ich wusste eine Menge über die Feld-Artillerie der Union, weil ich darüber einen Aufsatz geschrieben hatte, der so technisch und mit Fakten vollgestopft gewesen war, dass ich ihn für die Lehrerin noch einmal schreiben musste, und ich kannte auch Bradys Fotos der Gefallenen am Antietam. Ich hatte die Bilder im Netz gesehen: Jungen mit stechenden Augen, schwarz von Blut um Nase und Mund. » Unsere Klasse hat sechs Wochen lang Lincoln durchgenommen. «
    » Brady hatte ein Fotoatelier nicht weit von hier. Hast du es schon mal gesehen? «
    » Nein. « Da war ein eingesperrter Gedanke gewesen, der gerade hervorkommen wollte, wesentlich und unaussprechlich, freigesetzt durch die Erwähnung dieser ausdrucksleeren Soldatengesichter. Jetzt war alles wieder weg, alles bis auf das Bild: tote Jungen mit ausgestreckten Armen und Beinen, den Blick starr zum Himmel gerichtet.
    Das Schweigen, das darauf folgte, war quälend. Keiner von uns beiden schien zu wissen, wie es weitergehen sollte. Schließlich schlug Hobie die Beine übereinander. » Ich wollte sagen– tut mir leid. Dass ich dich bedränge « , sagte er stockend.
    Ich wand mich vor Verlegenheit. Ich war so voller Neugier nach Downtown gekommen, dass ich überhaupt nicht damit gerechnet hatte, man könnte von mir erwarten, selbst ein paar Fragen zu

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