Der Distelfink
oben über die Wände flirrten wie Pantoffeltierchen unter dem Mikroskop. Es roch stark nach Holzrauch, aber der Kamin war ausgebrannt und schwarz, und der Rost war mit Asche verstopft, als habe dort schon seit einer Weile kein Feuer mehr gebrannt.
» Das Mädchen « , sagte ich scheu.
Sein Blick kehrte zu mir zurück.
» Da war noch ein Mädchen. «
Einen Moment lang schien er nicht zu verstehen. Dann lehnte er sich in seinen Sessel zurück und blinzelte heftig, als habe man ihm Wasser ins Gesicht gespritzt.
» Was denn? « , fragte ich erschrocken. » Wo ist sie? Geht es ihr gut? «
» Nein « , er rieb sich den Nasenrücken, » nein. «
» Aber sie lebt? « Ich konnte es kaum glauben.
Er zog die Brauen hoch, und ich begriff, dass es » ja « bedeutete. » Sie hatte Glück. « Aber seine Stimme und sein Verhalten schienen mir das Gegenteil zu sagen.
» Ist sie hier? «
» Tja… «
» Wo ist sie? Kann ich sie sehen? «
Er seufzte und sah genervt aus. » Sie soll Ruhe haben und keinen Besuch. « Er wühlte in seinen Taschen. » Sie ist nicht sie selbst– es ist schwer abzusehen, wie sie reagieren wird. «
» Aber sie wird gesund? «
» Na, wir wollen es hoffen. Aber sie ist noch nicht über den Berg. Um die höchst unklare Formulierung zu benutzen, die die Ärzte beharrlich verwenden. « Er hatte in den Taschen seines Hausmantels Zigaretten gefunden. Mit unsicherer Hand zündete er sich eine an und warf die Packung mit schwungvoller Geste auf den lackierten japanischen Tisch zwischen uns.
» Was denn? « , fragte er und wedelte den Rauch vor seinem Gesicht beiseite, als er sah, dass ich die zerdrückte Packung anstarrte– französische Zigaretten, wie die Leute in alten Filmen sie rauchten. » Sag nicht, du willst auch eine. «
» Nein danke. « Ich war ziemlich sicher, dass er einen Scherz gemacht hatte. Aber nicht hundertprozentig sicher.
Er wiederum spähte scharf blinzelnd durch den Tabakdunst und sah irgendwie besorgt aus, als sei ihm soeben etwas Entscheidendes über mich klar geworden.
» Du bist das, oder? « , sagte er unverhofft.
» Wie bitte? «
» Du bist der Junge, nicht wahr? Dessen Mutter da drin gestorben ist? «
Ich war so verdattert, dass ich einen Moment lang nicht wusste, was ich antworten sollte.
» Was « , sagte ich und meinte damit, woher wissen Sie das?, aber das bekam ich nicht heraus.
Peinlich berührt rieb er sich das Auge und lehnte sich plötzlich zurück, verdattert wie ein Mann, der seinen Drink auf dem Tisch verschüttet hat. » Sorry. Ich habe nicht– ich meine– das klang jetzt nicht gut. Mein Gott. Ich bin… « Er machte eine vage Handbewegung, als wolle er sagen: Ich bin erschöpft, ich denke nicht mehr geradeaus.
Nicht sehr höflich schaute ich weg– unerwartet überrollt von einer flauen, unwillkommenen Welle aus Emotionen. Seit dem Tod meiner Mutter hatte ich kaum geweint, und schon gar nicht vor anderen Leuten– nicht einmal bei ihrem Begräbnisgottesdienst, wo Leute, die sie kaum gekannt hatten (und einer oder zwei, die ihr das Leben zur Hölle gemacht hatten, Mathilde zum Beispiel), sich schluchzend um mich herum die Nase putzten.
Er sah, dass ich kurz davor war, die Fassung zu verlieren. Wollte etwas sagen. Überlegte es sich.
» Hast du was gegessen? « , fragte er unerwartet.
Ich war so überrascht, dass ich nicht antworten konnte. Essen war das Letzte, was ich im Sinn hatte.
» Ah, das habe ich mir gedacht. « Er erhob sich knirschend auf die großen Füße. » Dann wollen wir mal was auftreiben. «
» Ich habe keinen Hunger « , sagte ich so grob, dass es mir gleich leidtat. Seit meine Mutter tot war, schienen alle immer nur eins im Kopf zu haben: mir Essen in den Schlund zu schaufeln.
» Nein, nein, natürlich nicht « , mit der freien Hand wedelte er eine Rauchwolke beiseite, » aber komm trotzdem mit, bitte. Mir zuliebe. Du bist doch kein Vegetarier, oder? «
» Nein! « , sagte ich empört. » Wie kommen Sie darauf? «
Er lachte, kurz, scharf. » Ganz ruhig! Viele ihrer Freunde sind Vegetarier und sie auch. «
» Oh « , sagte ich leise, und er schaute mit lebhafter, gemütlicher Heiterkeit auf mich herunter.
» Na, nur damit du es weißt, ich bin auch kein Vegetarier « , sagte er. » Ich esse alle möglichen lächerlichen Sachen. Da werden wir beide wohl gut miteinander klarkommen. «
Er stieß eine Tür auf, und ich folgte ihm durch einen engen Korridor voll angelaufener Spiegel und alter Bilder. Er ging schnell vor mir
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