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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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beantworten.
    » Ich weiß, es muss schwer sein, darüber zu sprechen. Es ist nur– ich habe nie daran gedacht… «
    Meine Schuhe. Es war interessant, dass ich mir nie wirklich meine Schuhe anschaute. Die verschrammten Spitzen. Die zerfransten Schnürsenkel. Wir gehen am Samstag zu Bloomingdale’s und kaufen dir ein Paar neue. Dazu war es nicht mehr gekommen.
    » Ich will dich nicht in die Enge treiben. Aber– er war bei Bewusstsein? «
    » Ja. Irgendwie. Ich meine… « Beim Anblick seines wachsamen, bangen Gesichts wollte irgendein entlegener Teil meiner selbst mit allem möglichen Zeug herausplatzen, das er gar nicht zu wissen brauchte, und es war auch gar nicht richtig, ihm davon zu erzählen, von verspritzten Innereien, von hässlichen, regelmäßig wiederkehrenden Flashes, die in meine Gedanken einbrachen, selbst wenn ich wach war.
    Düstere Porträts, Porzellan-Spaniels auf dem Kaminsims, ein goldenes Pendel, das hin und her schwang, ticke-tack, ticke-tack.
    » Ich habe ihn rufen hören. « Ich rieb mir das Auge. » Als ich aufwachte. « Es war, als wollte ich einen Traum erklären. Das kann man nicht. » Ich bin zu ihm gegangen, und ich war bei ihm, und– es war nicht so schlimm. Nicht so, wie man vielleicht denkt « , fügte ich hinzu, denn meine Worte klangen verlogen, was ja auch stimmte.
    » Er hat mit dir gesprochen? «
    Ich schluckte angestrengt und nickte. Dunkles Mahagoni, Palmen in Töpfen.
    » Er war bei Bewusstsein? «
    Ich nickte wieder. Ein schlechter Geschmack in meinem Mund. So etwas konnte man nicht zusammenfassen, Zeug, das keinen Sinn ergab und keiner Geschichte folgte, der Staub, der Alarm, wie er meine Hand gehalten hatte, ein ganzes Leben lang nur wir beide dort, verworrene Sätze und Namen von Städten und Menschen, von denen ich nie gehört hatte. Gerissene Kabel, funkensprühend.
    Er sah mich immer noch an. Meine Kehle war trocken, und mir war ein bisschen schlecht. Der Augenblick ging nicht in den nächsten Augenblick über, wie er es tun sollte, und ich wartete darauf, dass er noch mehr Fragen stellte, irgendwelche, aber er tat es nicht.
    Schließlich schüttelte er den Kopf, als wolle er ihn klären. » Das ist… « Anscheinend war er genauso durcheinander wie ich. Mit seinem Hausmantel und dem lose herabhängenden grauen Haar saher aus wie ein kronenloser König in einem Kostümstück für Kinder.
    » Es tut mir leid. « Er schüttelte wieder den Kopf. » Das ist alles so neu. «
    » Wie bitte? «
    » Na ja, weißt du, es ist einfach « , er beugte sich vor und klapperte schnell und aufgeregt mit den Lidern, » es ist alles ganz anders, als man es mir erzählt hat, weißt du. Sie haben gesagt, er war sofort tot. Sehr, sehr nachdrücklich haben sie darauf bestanden. «
    » Aber… « Ich starrte ihn verblüfft an. Dachte er, ich hätte mir das alles ausgedacht?
    » Nein, nein « , sagte er hastig und hob beruhigend eine Hand. » Es ist bloß– sicher sagen sie das zu jedem. › War sofort tot ‹ ? « , sagte er kläglich, als ich ihn anstarrte. »› Absolut schmerzlos ‹ ? › Hat gar nichts mitbekommen ‹ ? «
    Und– ganz plötzlich– ging mir ein Licht auf, und die Implikationen schlängelten sich heran, dass es mich kalt überlief. Meine Mutter war auch » sofort tot gewesen « . Sie war » absolut schmerzlos « gestorben. Die Sozialarbeiter hatten diese Leier so beharrlich wiederholt, dass ich nie auf den Gedanken gekommen war, mich zu fragen, wieso sie da so sicher waren.
    » Obwohl, ich muss wirklich sagen– es war schwer vorstellbar, dass er auf diese Weise gehen würde « , sagte Hobie in die plötzliche Stille hinein. » Wie der Blitz. Gefallen, ohne es zu merken. Hatte das Gefühl, wie man es manchmal hat, dass es nicht so war, wie sie sagen, weißt du? «
    » Was? « Ich blickte auf, verwirrt von der bösartigen neuen Möglichkeit, über die ich hier gestolpert war.
    » Ein Lebewohl am Tor « , sagte Hobie. Er schien halb mit sich selbst zu sprechen. » Das hätte er gewollt. Der Abschiedsblick, das Todes-Haiku– er wäre nicht gern gegangen, ohne unterwegs noch mit jemandem zu sprechen. › Ein Teehaus inmitten Kirschenblüten, auf dem Weg zum Tod. ‹«
    Ich kam nicht mehr mit. In dem schattendunklen Zimmer drang ein einzelner Sonnenstrahl wie eine Klinge zwischen den Vorhängen hindurch, schnitt quer durch den Raum und fing sich lodernd auf einem Tablett voller Karaffen aus geschliffenem Glas, flackernde Prismen, die hierhin und dorthin huschten und hoch

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