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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Sie erkennt viele Leute nicht, die ihr nahgestanden haben, und spricht sehr förmlich mit ihnen, und dann wieder ist sie sehr offen zu Fremden, schwatzhaft und vertraulich, und Leute, die sie nie gesehen hat, behandelt sie wie alte Freunde. Kommt sehr oft vor, wie ich höre. «
    » Warum soll sie keine Musik hören? «
    Er zog eine Braue hoch. » Oh, sie tut es, gelegentlich jedenfalls. Aber manchmal, besonders, wenn es spät am Tag ist, regt es sie auf. Dann glaubt sie, sie muss üben, muss ein Stück für die Schule einstudieren, und das macht sie unglücklich. Sehr schwierig. Was das Spielen auf Amateurniveau angeht, das ist eines Tages absolut möglich, das hat man mir wenigstens gesagt… «
    Ganz plötzlich klingelte es an der Tür, und wir zuckten beide zusammen.
    » Ah « , sagte Hobie. Betrübt blickte er auf seine Armbanduhr, eine unglaublich schöne alte Uhr, wie ich sah. » Das wird ihre Krankenschwester sein. «
    Wir schauten einander an. Wir waren noch nicht fertig; es gab noch so viel zu sagen.
    Wieder klingelte es. Hinten am Korridor bellte der Hund. » Sie kommt zu früh. « Hobie lief eilig los und sah ein bisschen verzweifelt aus.
    » Darf ich wiederkommen? Sie besuchen? «
    Er blieb stehen. Offenbar war er entsetzt, weil ich überhaupt gefragt hatte. » Aber selbstverständlich darfst du wiederkommen « , sagte er. » Bitte komm wieder… «
    Noch einmal die Klingel.
    » Wann immer du willst « , sagte Hobie. » Bitte. Wir freuen uns, dich zu sehen. «
    III
    » Und, was war da unten? « , fragte Andy, als wir uns zum Abendessen umzogen. » War es unheimlich? « Platt war mit dem Zug zu seiner Schule zurückgefahren, Mrs. Barbour hatte ein Essen mit dem Vorstand irgendeiner Hilfsorganisation, und Mr. Barbour wollte mit dem Rest von uns im Yacht-Club zu Abend essen (wo er nur hinging, wenn Mrs. Barbour etwas anderes vorhatte).
    » Er kannte deine Mutter, der Typ. «
    Andy band sich seine Krawatte um und zog eine Grimasse: Jeder kannte seine Mutter.
    » Es war ein bisschen schräg « , sagte ich. » Aber es ist gut, dass ich hingegangen bin. Hier « , ich wühlte in meiner Tasche, » danke für dein Telefon. «
    Andy sah nach, ob Nachrichten gekommen waren, schaltete das Display ab und schob es in die Tasche. Ohne die Hand aus der Tasche zu nehmen, blickte er auf, sah mich aber nicht richtig an.
    » Ich weiß, es ist schlimm « , sagte er unverhofft. » Tut mir leid, dass jetzt alles so im Arsch ist für dich. «
    Sein Ton– flach wie die Roboterstimme auf einem Anrufbeantworter– verhinderte einen Moment lang, dass ich vollständig begriff, was er da gesagt hatte.
    » Sie war unheimlich nett. « Er sah mich immer noch nicht an. » Ich meine… «
    » Ja, ist gut « , murmelte ich. Ich war nicht scharf darauf, dieses Gespräch fortzusetzen.
    » Ich meine, ich vermisse sie. « Andy sah mir halb erschrocken indie Augen. » Noch nie ist jemand gestorben, den ich kannte. Na ja,mein Großvater Van der Pleyn. Aber niemand, den ich gern hatte. «
    Ich sagte nichts. Meine Mutter hatte immer eine Schwäche für Andy gehabt; sie hatte ihn geduldig über seine Wetterstation zu Hause ausgefragt und mit seinen » Galactic Battleground « -Punkten aufgezogen, bis er knallrot vor Vergnügen war. Jung, verspielt, lebenslustig, liebevoll– sie war all das gewesen, was seine Mutter nicht war: eine Mutter, die mit uns im Park Frisbee warf und über Zombie-Filme diskutierte und uns samstags morgens in ihrem Bett herumliegen ließ, wo wir Lucky Charms aßen und Cartoons anschauten. Manchmal hatte es mich ein bisschen geärgert, wie bekloppt und ausgelassen er sich in ihrer Gegenwart aufführte, wie er hinter ihr her trottete und von Level4 irgendeines Spiels quasselte, mit dem er gerade beschäftigt war, und wie er den Blick nicht von ihrem Hintern losreißen konnte, wenn sie sich bückte, um etwas aus dem Kühlschrank zu nehmen.
    » Sie war die Coolste « , sagte Andy mit seiner weit entfernt klingenden Stimme. » Weißt du noch, wie sie mit uns mit dem Bus zu diesem Horror-Fan-Kongress gefahren ist, weit draußen in New Jersey? Und wie dieser Irre namens Rip uns dauernd auf den Fersen war und sie für seinen Vampirfilm kriegen wollte? «
    Er meinte es gut, das wusste ich. Aber es war fast unerträglich, über irgendetwas zu reden, das mit meiner Mutter oder mit früher zu tun hatte. Ich wandte mich ab.
    » Ich glaube, das war nicht mal ein Horror-Fan « , sagte Andy mit seiner schwachen, irritierenden Stimme. » Ich

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