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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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schüttelte den Kopf. » Was? «
    » Samanthas Sohn? Den du vor ein paar älteren Jungen in der Schule beschützt hast? Hast dich für ihn verprügeln lassen– solche Sachen? «
    Wieder schüttelte ich den Kopf, völlig verdattert.
    Er lachte. » So viel Bescheidenheit! Du brauchst dich doch nicht zu schämen. «
    » Aber so war es nicht « , sagte ich hilflos. » Wir sind beide getriezt und verhauen worden. Jeden Tag. «
    » So stand es auch da. Das macht es umso bemerkenswerter, dass du dich vor ihn gestellt hast. Eine zerbrochene Flasche? « , sagte er, als ich nicht antwortete. » Jemand wollte Samantha Barbours Sohn mit einer zerbrochenen Flasche verletzen, und du… «
    » Ach, das « , sagte ich verlegen. » Das war gar nichts. «
    » Du wurdest selbst geschnitten. Als du versuchtest, ihm zu helfen. «
    » So war es nicht! Cavanaugh ist über uns beide hergefallen! Und da lag eine Glasscherbe auf dem Gehweg. «
    Wieder lachte er– das Lachen eines massigen Mannes, voll und rau und im Kontrast zu seiner sorgfältig kultivierten Stimme. » Na, wie es auch immer gewesen sein mag « , sagte er, » du bist jedenfalls in einer interessanten Familie untergekommen. « Er stand auf, ging zum Schrank, nahm eine Flasche Whiskey heraus und goss sich zwei Fingerbreit in ein nicht sehr sauberes Glas.
    » Samantha Barbour scheint kein besonders warmes und gastfreundliches Herz zu haben, den Eindruck macht sie zumindest nicht « , sagte er. » Aber mit Stiftungen und Sammelaktionen tut sie anscheinend eine Menge Gutes in der Welt, oder? «
    Ich schwieg, und er stellte die Flasche wieder in den Schrank. Durch das Oberlicht darüber fiel graues, opalisierendes Licht herein. Feine Regentropfen sprenkelten die Scheibe.
    » Werden Sie das Geschäft wieder aufmachen? « , fragte ich.
    » Tja… « Er seufzte. » Welty war für diesen Teil zuständig– Kunden, Verkauf. Ich– ich bin Schreiner, kein Kaufmann. Ein Brocanteur, ein Bricoleur. Setze kaum einen Fuß nach hier oben, bin immer unten, schleife, poliere. Jetzt ist er nicht mehr da, und es ist alles noch sehr neu. Leute rufen an, wegen irgendwelcher Sachen, die er verkauft hat, und Sachen werden geliefert, von denen ich nicht wusste, dass er sie gekauft hat, ich weiß nicht, wo die Unterlagen sind, weiß nicht, für wen das alles ist… Es gibt eine Million Dinge, nach denen ich ihn fragen müsste, und ich würde alles geben, wenn ich nur fünf Minuten mit ihm sprechen könnte. Besonders– ja, besonders, was Pippa angeht. Ihre medizinische Versorgung und– tja. «
    » Okay « , sagte ich und hörte gleich, wie lahm es klang. Wir näherten uns dem unwegsamen Gelände der Beerdigung meiner Mutter: lang gezogenes Schweigen, falsches Lächeln, ein Ort, an dem Worte nicht funktionieren.
    » Er war ein wunderbarer Mann. Gibt nicht viele wie ihn. Sanft, bezaubernd. Die Leute hatten immer Mitleid mit ihm wegen seiner Schulter, aber ich habe nie jemanden kennengelernt, der von Natur aus mit einem so glücklichen Wesen gesegnet war, und die Kunden haben ihn natürlich geliebt… ein extrovertierter Mann, sehr gesellig, immer schon… › Die Welt kommt nicht zu mir ‹ , sagte er immer. › Also muss ich zu ihr gehen ‹ … «
    Ganz plötzlich zirpte Andys iPhone: eine SMS .
    Hobie– das Glas halb erhoben– erschrak heftig. » Was war das? «
    » Moment « , sagte ich und wühlte in meiner Tasche. Die Nachricht kam von Phil Lefkows Telefon (das war ein Junge aus Andys Japanisch-Kurs): HI THEO , ANDY HIER , ALLES OKAY ? Hastig schaltete ich es ab und steckte es wieder in die Tasche.
    » Verzeihung « , sagte ich. » Wo waren Sie gerade? «
    » Ich hab’s vergessen. « Er starrte ein, zwei Augenblicke ins Leere und schüttelte dann den Kopf. » Ich hätte nie gedacht, dass ich den noch einmal wiedersehe. « Er schaute den Ring an. » Es passt so gut zu ihm, dass er dich bittet, ihn herzubringen– ihn in meine Hand zu legen. Ich– na ja, ich habe nichts gesagt, aber ich war sicher, dass jemand im Leichenschauhaus ihn eingesteckt hatte… «
    Wieder ertönte das lästige, schrille Zwitschern des Telefons. » Mann, sorry! « Ich zerrte es hastig heraus. Andys Message lautete:
    WILL NUR SICHER SEIN DASS DU NICHT ERMORDET WIRST !!!!
    » Sorry « , sagte ich noch einmal, und diesmal hielt ich die Taste sicherheitshalber gedrückt. » Jetzt ist es wirklich abgeschaltet. «
    Aber er lächelte nur und schaute in sein Glas. Der Regen klopfte und tropfte gegen das Oberlicht und warf

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