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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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meine Hand den Weg zu ihrer Wange gefunden, und ungeschickt zog ich sie zurück und zwang sie an meine Seite, ballte sie zur Faust, setzte mich praktisch darauf. » Ich war da. « In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass Hobie in der Tür stand.
    » Hallo, meine alte Liebe. « Die Wärme in seiner Stimme war hauptsächlich für sie, aber ich spürte, dass ein bisschen davon auch mir galt. » Ich hab ja gesagt, er kommt wieder. «
    » Hast du! « Sie stemmte sich hoch. » Er ist hier. «
    » Und? Wirst du nächstes Mal auf mich hören? «
    » Ich habe auf dich gehört. Ich habe dir nur nicht geglaubt. «
    Der Saum einer hauchdünnen Gardine streifte den Fenstersims. Ich hörte den leisen Singsang des Verkehrs auf der Straße. So auf ihrer Bettkante zu sitzen, fühlte sich an wie der Augenblick des Aufwachens zwischen Traum und Tageslicht, wenn alles miteinander verschmolz und verschwamm, bevor es sich veränderte, alles im selben, fließenden, euphorischen Gleiten: regnerisches Licht, Pippa im Bett mit Hobie in der Tür, ihr Kuss (mit dem seltsamen Geschmack dessen, was ein Morphium-Lolli gewesen sein muss, wie ich heute glaube) immer noch klebrig auf meinen Lippen. Aber vielleicht reicht nicht einmal Morphium als Erklärung dafür, wie beschwingt mir in diesem Moment zumute war, wie ich lächelte, eingehüllt in Glück und Schönheit. Halb benommen verabschiedeten wir uns (niemand versprach zu schreiben, denn dazu war sie anscheinend noch zu krank), und dann war ich im Flur, die Krankenschwester war da, Tante Margaret redete laut und verwirrend, und Hobies Hand lag beruhigend auf meiner Schulter, ein kraftvoller, tröstender Druck, ein Anker, der mir sagte, dass alles gut war. Eine solche Berührung hatte ich nicht mehr gespürt, seit meine Mutter tot war– freundlich, haltspendend inmitten verwirrender Ereignisse–, und wie ein streunender Hund, der nach Zuneigung giert, spürte ich eine profunde Verschiebung des Zugehörigkeitsgefühls, tief im Blut, eine plötzliche, demütigende Überzeugung, die mir die Tränen in die Augen trieb: Dieser Ort ist gut, dieser Mensch gibt Sicherheit, ihm kann ich vertrauen, und niemand wird mir etwas tun.
    » Ah « , rief Tante Margaret, » weinst du? Sehen Sie das? « , fragte sie die junge Krankenschwester (die nickte, lächelte, sehr beflissen, offenkundig in ihrem Bann). » Wie süß er ist! Sie wird dir fehlen, nicht wahr? « Ihr Lächeln war breit und seiner selbst, seiner Richtigkeit völlig sicher. » Du musst zu Besuch herunterkommen, absolut, das musst du. Ich habe immer gern Gäste. Meine Eltern… sie hatten eins der größten Tudor-Häuser in Texas… «
    So plapperte sie weiter, freundlich wie ein Papagei. Aber meine Loyalität nistete sich woanders ein. Und der Geschmack von Pippas Kuss– bittersüß und seltsam– blieb auf dem ganzen Rückweg bei mir, schwankend und schläfrig, als ich mit dem Bus nach Hause segelte, verschmolzen mit Trauer und Liebreiz, ein sternenfunkelnder Schmerz, der mich über die windige Stadt erhob wie einen Drachen: mit dem Kopf in den Regenwolken, mit dem Herzen im Himmel.
    IX
    Der Gedanke daran, dass sie wegging, war mir zuwider. Ich ertrug es nicht, darüber nachzugrübeln. Am Tag ihrer Abreise (es war zufällig Karfreitag) wachte ich tief betrübt auf. Ich schaute in den Himmel über der Park Avenue, blauschwarz und bedrohlich, ein wabernder Himmel wie auf einem Gemälde des Kalvarienbergs, und ich stellte mir vor, wie sie aus dem Fenster des Flugzeugs in denselben dunklen Himmel schaute, und die gesenkten Blicke und die nüchterne Stimmung auf der Straße (als Andy und ich zur Bushaltestelle gingen, läuteten die Kirchenglocken überall an der Park Avenue) schienen meine Trauer über ihre Abreise zu reflektieren und zu verstärken.
    » Na, Texas ist wirklich langweilig « , sagte Andy zwischen zwei Niesern. Seine Augen waren rot und tränten vom Heuschnupfen, sodass er noch mehr als sonst aussah wie eine Laborratte.
    » Warst du schon mal da? «
    » Ja, in Dallas. Onkel Harry und Tante Tess haben eine Zeitlang da gewohnt. Man kann da nur ins Kino gehen, und man kommt nirgends zu Fuß hin, man muss immer gefahren werden. Außerdem haben sie Klapperschlangen und die Todesstrafe, die ich in achtundneunzig Prozent aller Fälle für primitiv und unethisch halte. Aber wahrscheinlich ist es dort besser für sie. «
    » Warum? «
    » Wegen des Klimas, hauptsächlich. « Andy putzte sich die Nase mit einem der gebügelten

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