Der Distelfink
Jahr nach den Frühjahrsferien gestorben, und deshalb hatte ich die Frühjahrsferien frei und eine Woche danach auch noch. Und wir sollten einen Klassenausflug machen, in den Botanischen Garten, und ich konnte nicht mit. Sie fehlt mir. «
» Woran ist sie gestorben? «
» Sie war krank. War deine Mutter auch krank? «
» Nein. Es war ein Unfall. « Ich wollte mich nicht weiter in diesesThema hineinwagen. » Jedenfalls, sie hatte Pferde sehr gern, meine Mutter. Als sie noch kleiner war, hatte sie ein Pferd, und sie sagte, es war manchmal einsam, okay? Und dann kam es zum Haus und legte den Kopf auf die Fensterbank, um zu sehen, was so los war. «
» Wie hieß es? «
» Paintbox. « Ich hatte es immer gern gehabt, wenn meine Mutter mir von den Stallungen zu Hause in Kansas erzählte: Eulen und Fledermäuse in den Dachbalken, das Wiehern und Schnauben der Pferde. Ich kannte die Namen sämtlicher Pferde und Hunde aus ihrer Kindheit.
» Malkasten? Hatte er lauter verschiedene Farben? «
» Er war scheckig, irgendwie. Ich habe Bilder von ihm gesehen. Manchmal, im Sommer, kam er und schaute zu ihr herein, wenn sie ihren Mittagsschlaf machte. Dann hörte sie ihn atmen, weißt du, gleich hinter dem Vorhang. «
» Das ist so schön! Ich mag Pferde. Es ist nur… «
» Was denn? «
» Ich würde lieber hierbleiben! « Plötzlich war sie den Tränen nahe. » Ich weiß nicht, warum ich weggehen muss. «
» Du solltest ihnen sagen, du willst hierbleiben. « Wann hatten unsere Hände einander gefunden? Und warum war ihre Hand so heiß?
» Das habe ich ihnen gesagt! Aber alle meinen, dort ist es besser. «
» Warum? «
» Ich weiß es nicht « , sagte sie verärgert. » Es ist ruhiger, sagen sie. Aber ich hab’s nicht gern, wenn es ruhig ist, ich hab’s gern, wenn man alles Mögliche hören kann. «
» Mich werden sie auch wegschicken. «
Sie stützte sich auf den Ellenbogen. » Nein! « , sagte sie und sah beunruhigt aus. » Wann? «
» Ich weiß es nicht. Bald, nehme ich an. Ich muss bei meinen Großeltern wohnen. «
» Oh « , sagte sie und ließ sich in das Kissen zurückfallen. » Ich habe keine Großeltern. «
Ich flocht meine Finger in ihre. » Meine sind nicht sehr nett. «
» Das tut mir leid. «
» Ist okay « , sagte ich so normal wie möglich, aber mein Herz klopfte so hart, dass ich meinen Puls in den Fingerspitzen fühlte. Ihre Hand in meiner fühlte sich samtig und fieberheiß an, nur ein winziges bisschen klebrig.
» Hast du sonst keine Verwandten? « Ihre Augen waren im matten Licht des Fensters so dunkel, dass sie schwarz aussahen.
» Nein. Na ja… « Zählte mein Vater? » Nein. «
Es war lange still. Wir waren immer noch durch die Ohrhörer verbunden– der eine in ihrem Ohr, der andere in meinem. Singende Muscheln. Engelschöre und Perlen. Alles ging plötzlich viel zu langsam; es war, als hätte ich vergessen, wie man richtig atmet: Immer wieder merkte ich, dass ich den Atem anhielt und dann rasselnd und zu laut ausatmete.
» Was für eine Musik ist das, sagst du? « , fragte ich, nur um etwas zu sagen.
Sie lächelte verschlafen und griff nach einem spitzen, unappetitlich aussehenden Lolli, der auf einer Folie auf ihrem Nachttisch lag.
» Palestrina « , sagte sie um den Lutscher in ihrem Mund herum. » Ein Hochamt oder so was. Die klingen alle sehr ähnlich. «
» Magst du sie? « , fragte ich. » Deine Tante? «
Sie sah mich mehrere Herzschläge lang an. Dann legte sie den Lolli sorgfältig wieder auf die Folie. » Anscheinend ist sie ganz nett. Nehme ich an. Aber ich kenne sie eigentlich nicht. Es ist schräg. «
» Warum musst du? Gehen? «
» Es geht ums Geld. Hobie kann nichts machen, er ist nicht mein richtiger Onkel. Mein Scheinonkel, so nennt sie ihn. «
» Ich wünschte, er wäre dein richtiger Onkel « , sagte ich. » Ich möchte, dass du hierbleibst. «
Plötzlich setzte sie sich auf, schlang die Arme um mich und küsste mich. Alles Blut verschwand rauschend aus meinem Kopf, in weitem Schwung, als stürzte ich von einer Klippe.
» Ich… « Entsetzen packte mich. Benommen, reflexhaft, hob ich die Hand und wischte den Kuss ab– aber er war nicht nass oder eklig, und ich fühlte seine leuchtende Spur quer über meinen Handrücken.
» Ich will nicht, dass du weggehst. «
» Ich will auch nicht weggehen. «
» Weißt du noch, dass du mich gesehen hast? «
» Wann? «
» Direkt vorher. «
» Nein. «
» Ich erinnere mich an dich « , sagte ich. Irgendwie hatte
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