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Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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geholt zu werden.«
    »Es tut mir aufrichtig leid, Siegfried. Ich hatte wirklich nicht den Wunsch, Ihnen das anzutun. Vielleicht liegt es einfach daran, daß mir die Erfahrung fehlt. Wenn ich nicht sofort hinginge, hätte ich zu große Angst, das Tier könnte sterben. Angenommen, ich warte bis zum Morgen und komme zu spät – wie stehe ich dann da?«
    »Unsinn«, rief Siegfried ärgerlich. »Nichts bringt die Leute so schnell zur Vernunft wie ein totes Tier. Das nächste Mal rufen sie uns dann ein bißchen früher.«
    Ich schluckte diesen Ratschlag und versuchte mich danach zu richten. Eine Woche später sagte Siegfried, er habe ein Wörtchen mit mir zu reden. »James, ich weiß, Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen sage, daß der alte Sumner sich heute über Sie beschwert hat. Er sagte, er hätte Sie letzte Nacht angerufen, und Sie hätten sich geweigert, nach seiner Kuh zu sehen. Er ist ein guter Kunde und ein sehr netter Mensch, aber er war ziemlich eingeschnappt. Wir wollen uns den alten Burschen doch nicht zum Feind machen.«
    »Seine Kuh hat lediglich eine chronische Mastitis«, wandte ich ein. »Die Milch klumpte ein bißchen, das war alles. Er hatte das Tier fast eine Woche mit irgendeiner Quacksalbermedizin behandelt. Die Kuh fraß völlig normal, und deshalb dachte ich, man könnte ruhig bis zum nächsten Tag warten.«
    Siegfried legte mir die Hand auf die Schulter, und sein Gesicht nahm einen ungewöhnlich geduldigen Ausdruck an. Ich wappnete mich dagegen. An seine Ungeduld war ich gewöhnt, ich konnte sie ertragen. Aber seine Geduld stellte die meine auf eine harte Probe.
    »James«, sagte er sanft, »es gibt eine Grundregel in unserem Beruf, die über allen anderen Regeln steht, und ich will Ihnen sagen, wie sie lautet. DU MUSST HELFEN. Das ist es, und diese Worte sollten mit feurigen Buchstaben in Ihr Gedächtnis eingebrannt sein.« Er hob den Zeigefinger. »DU MUSST HELFEN. Denken Sie immer daran, James, es ist die Basis aller Dinge. Ganz gleich wie die Umstände sind, ob Regen oder Sonnenschein, ob Tag oder Nacht, wenn man Sie ruft, müssen Sie hingehen – freudig hingehen. Sie sagen, nach Sumners Bericht war es kein dringender Fall. Schön. Aber Sie haben nur die Angaben des Kunden, und er als Laie kann nicht entscheiden, ob es dringend ist oder nicht. Nein, mein Junge, Sie müssen hingehen. Auch wenn der Besitzer das Tier selbst behandelt hat, es kann eine Wendung zum Schlimmeren eingetreten sein. Und vergessen Sie nicht –« er drohte feierlich mit dem Finger – »das Tier könnte sterben.«
    »Aber neulich sagten Sie doch, daß nichts die Leute so rasch zur Vernunft bringt wie ein totes Tier«, protestierte ich.
    »Was reden Sie da?« bellte Siegfried aufs höchste erstaunt. »Das ist der größte Unsinn, den es gibt. So etwas will ich nie wieder hören. Denken Sie immer daran: DU MUSST HELFEN.«
     
    Dann kam der Tag, an dem Siegfried beschloß, meinen Wagen überholen zu lassen. Der bisherige Verbrauch von einem Liter Benzin täglich war Siegfried ganz normal erschienen, aber als die Menge auf mehr als zwei Liter pro Tag stieg, fand er, daß jetzt etwas geschehen müßte. Den Anstoß dazu gab vermutlich ein Bauer, der ihm am Markttag erzählte, er wüßte immer, wenn der junge Doktor käme, denn die blaue Rauchwolke sei meilenweit zu sehen.
    Als der kleine Austin aus der Werkstatt zurückkam, machte Siegfried viel Aufhebens von ihm. »Kommen Sie mal her, James«, rief er, »ich möchte mit Ihnen reden.«
    Ich sah, daß er wieder die geduldige Tour hatte, und nahm mich zusammen.
    »James«, sagte er, während er das uralte Vehikel umkreiste und Flecken vom Lack abwischte, »sehen Sie dieses Auto?«
    Ich nickte.
    »Schön. Es ist überholt worden, James, überholt mit großen Kosten, und darüber möchte ich mit Ihnen reden. Sie haben ja jetzt einen Wagen in Ihrem Besitz, der praktisch neu ist.« Mit einiger Anstrengung entriegelte er den Verschluß, und die Motorhaube öffnete sich quietschend unter einem Regen von Rost und Dreck. Er zeigte auf den schwarzen, öligen Motor, um den herum lose Leitungsschnüre und Gummischläuche wie Girlanden hingen. »Sie haben hier einen hervorragenden und äußerst komplizierten Mechanismus vor sich, und ich wünsche, daß Sie ihn mit Respekt behandeln. Ich habe Sie oft genug wie einen Wahnsinnigen durch die Gegend rasen sehen, und das darf nicht sein. Sie müssen diese Maschine auf den nächsten zwei- oder dreitausend Meilen schonend

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