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Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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griff.
    »Was machen Sie denn da?«
    »Ich will fühlen, ob die Milch schon durchkommt.«
    »Unsinn, das ist doch gar nicht möglich. Sie haben ihr ja eben erst dieses Zeug gegeben, und sie ist knochentrocken.«
    Jetzt hätte eigentlich ein Trommelwirbel ertönen müssen. Mit Finger und Daumen umfaßte ich eine der Zitzen. Ich vermute, daß ich einen Hang zum Exhibitionismus habe, denn bei solchen Gelegenheiten lenke ich den Milchstrahl immer auf die gegenüberliegende Wand. Diesmal aber hielt ich es für eindrucksvoller, dicht an Mr. Worleys linkem Ohr vorbeizuspritzen. Ich zielte jedoch nicht genau genug und bespritzte statt dessen seine Brille.
    Er nahm sie ab und putzte sie langsam, als könne er nicht glauben, was er gesehen hatte. Dann bückte er sich und versuchte es selbst.
    »Das ist ein Wunder!« schrie er, als die Milch über seine Hand floß. »So was habe ich noch nie gesehen!«
    Die Ferkelchen brauchten nicht lange, um zu begreifen. Innerhalb von Sekunden hörten sie auf, zu quieken und einander zu stoßen; sie legten sich schweigend in einer langen Reihe nieder und saugten hingebungsvoll – es galt ja, die verlorene Zeit nachzuholen.
    Ich ging in die Küche, um mir die Hände zu waschen. Als ich das Handtuch benutzte, das hinter der Tür hing, hörte ich etwas Seltsames: Stimmengewirr, Gläserklirren und das leise Scharren von Füßen. Um zwei Uhr nachts war das in einer Gastwirtschaft ungewöhnlich. Ich spähte durch die halboffene Tür. Der Schankraum war überfüllt. Im Licht einer einzigen schwachen Glühbirne sah ich eine Reihe von Männern an der Theke stehen, andere saßen weiter hinten auf den Holzbänken und hatten schäumende Gläser vor sich stehen.
    Mr. Worley grinste, als ich ihn überrascht anblickte.
    »Das haben Sie nicht erwartet, wie? Ich sage Ihnen, die richtigen Trinker kommen erst nach der Polizeistunde. Jede Nacht schließe ich die Vordertür ab, und diese Burschen kommen von hinten rein.«
    Ich spähte noch einmal in den Schankraum. Alle zweifelhaften Charaktere der Stadt schienen sich hier versammelt zu haben. Leute, von deren Übeltaten die Wochenzeitung regelmäßig berichtete. Trunkenheit, Abzahlungsschulden, verprügelte Frauen, Tätlichkeiten und Schlägereien – ich las geradezu die Schlagzeilen, als mein Blick über die Gesichter glitt.
    Jetzt hatte man mich entdeckt. Begrüßungsschreie wurden laut, und mir kam plötzlich zum Bewußtsein, daß alle Augen in dem verräucherten Raum auf mich gerichtet waren. Jemand brüllte: »Wollen Sie was trinken?« Am liebsten wäre ich wieder ins Bett gegangen, aber es machte bestimmt keinen guten Eindruck, wenn ich mich verdrückte, und so ging ich zur Theke. Ich schien viele Freunde zu haben, denn innerhalb von Sekunden war ich Mittelpunkt einer fröhlichen Runde.
    Mein Nachbar zur Rechten war ein gewisser Gobber Newhouse, ein ungeheuer fetter Mann, der allem Anschein nach durchs Leben kam, ohne zu arbeiten. Er verbrachte seine Zeit mit Trinken, Krakeelen und Spielen. Im Augenblick war er friedlich gestimmt, und auf seinem großen, schwitzenden Gesicht, das sich dicht neben dem meinen befand, lag ein kameradschaftliches Grinsen.
    »Na, Mr. Herriot, wie geht das Hundegeschäft?« erkundigte er sich höflich.
    Nie zuvor hatte jemand meinen Beruf so bezeichnet, und ich überlegte noch, was ich antworten sollte, als ich bemerkte, daß die Gesellschaft mich erwartungsvoll ansah. Mr. Worleys Nichte, die hinter der Theke bediente, sah mich ebenfalls erwartungsvoll an.
    »Sechs Halbe vom besten – macht sechs Shilling, bitte«, sagte sie und klärte damit die Lage.
    Ich bezahlte. Mein erster Eindruck, daß jemand mich eingeladen habe, war offensichtlich falsch gewesen. Wer mir die Frage, ob ich was trinken wolle, zugerufen hatte, ließ sich natürlich nicht mehr ermitteln, und als das Bier ausgetrunken war, zogen sich die Männer einer nach dem anderen unauffällig von mir zurück.
    Ich verließ das Lokal. Das Licht aus dem Schweinestall leuchtete durch die Dunkelheit des Hofes, und als ich hinüberging, sagte mir das sanfte Brummeln der Stimmen von Mensch und Schwein, daß Mr. Worley noch immer mit seiner Sau plauderte. Er blickte auf, als ich eintrat, und flüsterte mit verzückter Miene: »Mr. Herriot, sehen sie nicht süß aus?«
    Er zeigte auf die Ferkelchen, die regungslos auf einem Haufen lagen, die Augen fest geschlossen, die kleinen Bäuche prallvoll mit Marigolds Milch.
    »Ja, wirklich«, sagte ich und tippte mit dem Finger in

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