Der Doktor und das liebe Vieh
kleine Glasröhre blitzschnell durch den Darmtrakt schob und schließlich ein lebenswichtiges Organ durchbohrte. Dann tauchte ein anderes gräßliches Bild auf: Ich sah mich den Bauch der Kuh in voller Länge aufschneiden, um mein Thermometer zurückzuholen.
Es ist schwer, die Erleichterung zu beschreiben, die ich empfand, als ich plötzlich das Ding zwischen meinen Fingern fühlte; ich zog es heraus, es triefte von Kot, und ich stierte blöde auf die Skala der Röhre.
Mr. Sidlow räusperte sich. »Na, was ist? Hat sie Fieber?«
Ich fuhr herum und durchbohrte ihn mit meinem Blick. War es denkbar, daß der Kerl einen Witz machte? Aber das dunkle, verkniffene Gesicht war völlig ausdruckslos.
»Nein«, murmelte ich, »kein Fieber.«
Der Rest dieses Besuchs ist gnädigerweise in meiner Erinnerung verschwommen. Ich weiß nur noch, daß ich mich wusch und anzog und zu Mr. Sidlow sagte, meiner Meinung nach habe seine Kuh die Johnesche Krankheit, die unheilbar sei, aber ich würde eine Kotprobe untersuchen lassen, um ganz sicherzugehen.
Ich verließ den Hof. Mehr denn je niedergedrückt von dem Gefühl, mich blamiert zu haben, sauste ich mit höchster Geschwindigkeit nach Brawton. Ich ratterte auf den Parkplatz neben der Rennbahn, stürmte durch den Eingang für Eigentümer und Trainer und packte den Pförtner am Arm.
»Ist das erste Rennen schon vorbei?« keuchte ich.
»Ja, gerade zu Ende«, antwortete er vergnügt. »Kemal hat gewonnen, zehn zu eins.«
Ich wandte mich um und ging langsam zum Sattelplatz. Fünfzig Pfund! Das unbarmherzige Schicksal hatte mich um ein Vermögen gebracht. Und über der ganzen Tragödie schwebte eine düstere Erscheinung: Mr. Sidlow. Ich konnte ihm vieles verzeihen: daß er mich zu den unmöglichsten Zeiten aus dem Bett holte; daß er mich mit einer langen Kette hoffnungsloser Fälle konfrontiert und dadurch meine Selbstachtung bis auf den Grund zerstört hatte. Ich konnte ihm verzeihen, daß er mich für den größten Idioten in ganz Yorkshire hielt und diese Meinung überall verkündete. Niemals aber würde ich ihm verzeihen, daß ich seinetwegen fünfzig Pfund verloren hatte.
Kapitel 27
»Das Reniston ?« sagte ich unsicher. »Ziemlich vornehm, nicht wahr?«
Tristan saß bequem zurückgelehnt in seinem Lieblingssessel und sah durch eine Wolke Zigarettenqualm zu mir auf. »Natürlich ist es vornehm. Außerhalb Londons ist es das luxuriöseste Hotel in England, aber für Ihren Zweck ist es ideal. Der heutige Abend ist doch Ihre große Chance, stimmt’s? Sie möchten diesem Mädchen imponieren, oder? Schön, rufen Sie an und sagen Sie ihr, Sie gingen mit ihr ins Reniston. Das Essen ist phantastisch, und jeden Samstagabend ist Tanz. Und heute ist Samstag.«
Er setzte sich plötzlich auf. »Sehen Sie es nicht vor sich, Jim? Musik quillt aus Benny Thorntons Trompete, und Sie, mit überbackenem Hummerragout im Magen, schweben über das Parkett, während Helen sich an Sie schmiegt. Der einzige Haken bei der Geschichte sind die Kosten, aber wenn Sie bereit sind, ein halbes Monatsgehalt auszugeben, werden Sie einen wirklich schönen Abend verbringen.«
Den letzten Satz hörte ich kaum; ich konzentrierte mich auf die strahlende Vision einer Helen, die sich an mich schmiegte. Es war ein Bild, das solche profanen Dinge wie Geld auslöschte. Ich stand mit halb offenem Mund da und lauschte der Trompete.
Tristan riß mich aus meinen Träumen. »Noch etwas – haben Sie einen Smoking? Sie brauchen einen.«
»Also in punkto Abendkleidung sieht es bei mit nicht gerade toll aus. Für die Party bei Mrs. Pumphrey habe ich mir damals einen Anzug in Brawton geliehen, aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr.« Ich dachte einen Moment nach. »Ich habe allerdings noch meinen ersten und einzigen Abendanzug, den ich als Siebzehnjähriger bekam, aber ich weiß nicht, ob ich noch hineinpasse.«
Tristan wischte meine Zweifel beiseite. »Macht absolut nichts, Jim. Hauptsache, es ist ein Smoking, dann läßt man Sie schon herein, und bei einem großen, gut aussehenden Burschen wie Ihnen ist der Sitz des Anzugs ganz unwichtig.«
Wir gingen nach oben und förderten das Kleidungsstück aus den Tiefen meines großen Koffers zutage. Bei den Collegebällen hatte ich in diesem Anzug recht gute Figur gemacht, wenn er auch gegen Ende des Studiums ziemlich eng geworden war. Jetzt aber sah er rührend altmodisch aus. Die Mode hatte sich geändert; der Trend ging zu bequemen Jacken und weichen, ungestärkten
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