Der Dolchstoss
erzählen, aber Mat sagte ihm, er solle lesen üben.
An diesem Abend schob niemand einen Zettel unter seiner Tür hindurch. Und niemand rüttelte am Schloß. Mat begann zu glauben, daß vielleicht alles besser würde. Morgen war das Vogelfest. Nach dem zu urteilen, was er über die Kostüme gehört hatte, welche die Leute trugen - Männer und Frauen gleichermaßen -, würde sich Tylin vielleicht ein neues Entchen für die Jagd suchen. Und jemand würde vielleicht aus diesem verdammten Haus gegenüber der Rose von Elbar herauskommen und ihm die verdammte Schale der Winde aushändigen. Es mußte einfach alles besser werden.
Als er am dritten Morgen im Tarasin-Palast erwachte, rollten die Würfel in seinem Kopf umher.
KAPITEL 10
Das Vogelfest
Mat wachte von den Würfeln auf und erwog weiterzuschlafen, bis sie zur Ruhe kämen, aber schließlich stand er doch mißmutig auf. Als hätte er nicht schon genug Sorgen. Er verscheuchte Nerim, zog sich an, aß währenddessen die letzten Stücke Brot und Käse vom Vorabend und sah dann nach Olver. Der Junge war hin- und hergerissen zwischen der Möglichkeit sich rasch anzukleiden, um hinauszugelangen, und der Möglichkeit stehenzubleiben - Stiefel und Hemd in der Hand haltend -, um Dutzende von Fragen loszuwerden, die Mat nur halbherzig beantwortete. Nein, sie würden heute nicht zu den Rennen gehen. Vielleicht könnten sie die Tierschau besuchen. Ja, Mat würde ihm eine Federmaske für das Fest kaufen. Wenn er sich jemals fertig ankleidete. Was prompt geschah.
In Wahrheit beschäftigten Mat die Würfel in seinem Kopf. Warum hatten sie erneut zu rollen begonnen? Er wußte immer noch nicht, warum sie auch früher schon zu rollen begonnen hatten!
Als Olver schließlich angezogen war, folgte er Mat plappernd ins Wohnzimmer - und stieß von hinten gegen ihn, als Mat jäh stehenblieb. Tylin legte das Buch, das Olver am Abend zuvor gelesen hatte, auf den Tisch zurück.
»Majestät!« Mat warf einen raschen Blick zur Tür, die er letzte Nacht abgeschlossen hatte und die jetzt weit offenstand. »Welche Überraschung.« Er zog Olver vor sich, zwischen sich und das spöttische Lächeln der Frau. Nun, vielleicht war es nicht wirklich spöttisch, aber gewiß schien es in dem Moment so. Sie war offensichtlich mit sich zufrieden. »Ich wollte Olver gerade mit in die Stadt nehmen. Wir wollen uns das Fest ansehen. Und eine Tierschau. Er wünscht sich eine Federmaske.« Er schloß jäh den Mund, um nicht weiteren Unsinn von sich zu geben, und ging langsam auf die Tür zu, wobei er den Jungen als Schild benutzte.
»Ja«, murmelte Tylin, die ihn durch gesenkte Wimpern beobachtete. Sie machte keinerlei Anstalten einzugreifen, aber ihr Lächeln vertiefte sich, als warte sie nur darauf, daß sein Fuß in einer Falle landete. »Es ist weitaus besser, wenn er in Begleitung ist, als wenn er mit den Straßenkindern umherrennt, wie ich gehört habe. Man hört eine Menge über Euren Jungen. Riselle?«
Eine Frau erschien im Eingang, und Mat zuckte zusammen. Eine phantasievolle Maske aus blauen und goldenen Federn verbarg weitgehend Riselles Gesicht, aber die Federn an ihrem übrigen Kostüm verbargen sonst nicht viel. Sie besaß den aufsehenerregendsten Busen, den er je gesehen hatte.
»Olver«, sagte sie und sank auf die Knie, »würdest du gern mit mir zum Fest gehen?« Sie hielt eine rotgrüne Falkenmaske hoch, die genau die richtige Größe für einen Jungen hatte.
Bevor Mat den Mund öffnen konnte, riß sich Olver von ihm los und lief zu ihr. »O ja, bitte. Vielen Dank.« Der undankbare kleine Flegel lachte, als sie ihm die Falkenmaske vors Gesicht band und ihn an ihren Busen drückte. Hand in Hand liefen sie hinaus und ließen Mat mit offenem Mund zurück.
Mat erholte sich ausreichend schnell, als Tylin sagte: »Gut für dich, daß ich keine eifersüchtige Frau bin, mein Süßer.« Sie zog den langen Eisenschlüssel zu seiner Tür hinter ihrem Gold- und Silbergürtel hervor, dann einen zweiten und winkte ihm damit. »Die Leute bewahren ihre Schlüssel immer in einem Kasten in der Nähe der Tür auf.« Dort hatte auch er seinen gelassen. »Und niemand denkt jemals daran, daß es noch einen weiteren Schlüssel geben könnte,« Ein Schlüssel wurde wieder hinter den Gürtel gesteckt, während der andere mit lautem Klicken im Schloß gedreht wurde, bevor er seinem Gegenstück folgte. »Nun, Schätzchen.« Sie lächelte.
Es war zuviel. Die Frau jagte ihn, versuchte, ihn auszuhungern, und jetzt
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