Der Domino-Killer
aus. Wand sich in den starren Armen ihrer Mutter, damit sie mich ansehen konnte. Ihr entsetzlich ruhiger Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie es genau begriffen hatte: Ihr Leben hatte sich gerade für immer verändert.
ZWEITER TEIL
KAPITEL 9
«David hat das zu mir gemacht!» Susanna versuchte ein Auge zuzukneifen, schloss stattdessen aber beide.
«Er hat dir zugezwinkert?» Ich unterdrückte ein Lächeln, streckte die Hand aus und schnippte eine verirrte Makkaroninudel zurück in ihre weiße Schüssel.
Mit großen Augen nickte sie.
«Ich habe gesagt: ‹Hallo, Davie Q!›» Sie lachte ausgelassen darüber, dass sie ihrem neuen Brüderchen einen ähnlichen Kosenamen verliehen hatte wie ihren eigenen.
«Und was hat er geantwortet?»
«Er hat gesagt: ‹Gah, gah, gah, wah, wah, wah!›»
Jon, der gerade mit dem Abwasch beschäftigt war, drehte sich von der Spüle zu uns um, und wir lächelten einander an. Die verspiegelten Hängeschränke hinter ihm warfen das Bild des strahlend blauen Himmels zurück, den die Panoramafenster des Hauses fast gänzlich verschluckten. Die Familie war nach zwei Wochen im Krankenhaus in diesen stadteigenen Unterschlupf gebracht worden, sobald die Ärzte der Meinung waren, dass David die Intensivstation für Frühgeburten verlassen konnte. Es war ein Penthouse, ein geschützter Raum, der in der sicheren Entfernung des 23. Stocks über dem wimmelnden Ameisenhaufen der Stadt schwebte. Wir befanden uns zwar in Manhattan, hätten aber genauso gut irgendwo auf dem Land sein können, fernab von allem . Weit weg von jedem Ort, an dem JPP nach Susanna suchen könnte … und dennoch in der Nähe des New York Presbyterian Hospitals, falls David im Ernstfall doch zurück auf die Intensivstation musste.
«Ich vermisse Mama», sagte Susanna, während sie Käsemakkaroni in ihren Mund löffelte.
Jon starrte seine Tochter an und war einen Moment sprachlos. Dann drehte er den Wasserhahn zu und trocknete sich die Hände ab. Er kam um die Küchentheke herum und kniete sich am Tisch neben sie hin.
«Soll Mama dir heute Abend etwas vorlesen?»
Susanna nickte.
«Iss auf, dann suchen wir ein Buch aus.»
Das tat sie und entschied sich wie immer für Das Samtkaninchen. Das Buch war so zerlesen, dass der Buchdeckel ganz weich und eselsohrig war – ungefähr so wie das vielgeliebte Kaninchen darin selbst. Jon nahm seine Tochter huckepack und trug sie durchs Wohn- und Esszimmer in den langen Flur. Susanna hielt das Buch fest in ihren kleinen Händen und starrte geradeaus auf die geschlossene Tür zum neuen Schlafzimmer ihrer Eltern. Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde und sich mit einem Klick wieder schloss.
Noch bevor ich das Wohnzimmer ganz durchquert hatte – mit den braunen Ledersofas, dazu passenden Lampen und der gemusterten Auslegeware wirkte es wie ein Hotelzimmer –, hörte ich Susanna schreien. Die Tür zum großen Schlafzimmer öffnete sich, und Andreas ungezügeltes krampfartiges Schluchzen drang heraus. Jon hatte mich schon vorgewarnt – dass Andrea «einfach nicht klarkam» –, um mir zu erklären, weshalb sie mich nicht sehen wollte. Trotzdem hatte mich das nicht auf das schreckliche Weinen meiner Schwägerin vorbereitet, mit dem sie auf eine so einfache Bitte ihres eigenes Kindes reagierte.
Sekunden später waren Jon und Susanna zurück im Wohnzimmer, sie wand sich in seinen Armen, und er musste sich anstrengen, um sie festhalten. Sie warf das Buch auf den Boden und versuchte sich mit aller Macht von ihrem Vater zu befreien. Ihr gequälter Gesichtsausdruck traf mich bis ins Mark, und ich fing ebenfalls an zu weinen. Ich umarmte die beiden, und wir standen eine Weile so da, während Susanna strampelte. Nach ein paar Minuten ließ sie sich gegen Jons Schulter fallen, presste ihr Gesicht gegen seinen Hals und seufzte.
«Willkommen in meinem neuen Leben», flüsterte er mir über Susannas helles zerzaustes Haar hinweg zu, das er sanft streichelte.
Etwas später setzten die zwei sich aufs Sofa. Susanna lehnte sich gegen ihren Vater und nuckelte heftig am Daumen, während er ihr vorlas. Ich konnte ihnen nicht einfach zusehen, wie sie sich langsam wieder beruhigten; ich hatte Angst, dass etwas, das ich sagen oder tun könnte, sie wieder aufwühlen würde. Also nahm ich meine Handtasche und ging zur Wohnungstür, um leise zu verschwinden … überlegte es mir dann aber doch noch einmal. Ich hatte bisher angenommen, dass Andrea vor allem mich nicht sehen wollte – mich, als
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