Der Domino-Killer
während Andrea, David und Lisette im hinteren Schlafzimmer weiter im Dunkeln hockten, saß ich mit Jon auf der Terrasse. Es war gerade kurz nach acht Uhr. Hinter uns ging die Sonne langsam unter und nahm das Tageslicht mit sich. Zurück blieb ein zartblauer Himmel, der immer dunkler wurde. Die Luft war angenehm, vielleicht ein wenig kühl. Wir tranken Weißwein … absolut verboten in Kombination mit Antidepressiva. Ich tat es trotzdem.
«Ich war im Netz, als du Susanna eben ins Bett gebracht hast.»
Er nickte und schaute über den Fluss hinüber nach New Jersey.
«Andrea hat eine Depression.»
«Ach, tatsächlich?» Er verzog sarkastisch einen Mundwinkel.
«Könnte eine postnatale Depression sein, obwohl ihr das nach Susanna nicht passiert ist. Bei manchen Frauen verschlimmert es sich dann zu einer postnatalen Psychose.»
«Offenbar lesen wir dieselben Webseiten.»
«Es gibt ein paar Antidepressiva, die man während der Stillzeit nehmen kann.»
«Sertralin, Paroxat und Fevarin.» Er nickte, einmal, entschieden. «Sie will nichts davon hören. Weigert sich, irgendwelche Chemie zu schlucken und Schluss; insbesondere im Moment, weil sie stillt.»
«Vielleicht ist langes Reden über mögliche Medikamente nicht der richtige Weg. Joyce brauchte Monate, bis sie mich davon überzeugt hatte, die Pillen zu nehmen; und ich war selbstmordgefährdet.»
Er schaute mich an. Weil ich war gesagt hatte. Überlegte, ob das auch der Wahrheit entsprach. Ich wich seinem Blick nicht aus, die Blicke aus unseren so ähnlichen blauen Augen trafen sich, während ich schweigend versuchte, meinen Bruder davon zu überzeugen, dass ich ihm jetzt nicht noch mehr Kummer bereiten würde.
«Sie kommt da durch», sagte ich.
Er zog die Stirn in Falten, einige davon waren tief und neu. Nippte am Wein. Schaute wieder in den Himmel, über den sich nun Nachtstreifen zogen. «Diese ganze Geschichte ist doch einfach unfassbar.» Er sank nach vorn und schlug die Hände vors Gesicht. Ich hatte Jon nicht mehr weinen sehen, seitdem wir Kinder waren. In der achten Klasse hatte ein Mädchen ihm mit Absicht ein kohlegeschwärztes Blatt Papier gegeben. Er war den ganzen Tag mit einem schmutzigen Gesicht herumgelaufen, ohne dass es ihm jemand sagte. Als er nach Hause kam und sich selbst im Spiegel sah, begriff er, warum seine Mitschüler ihn den ganzen Tag ausgelacht hatten. Heute als Erwachsene wusste ich, was seine jugendlichen Tränen bedeutet hatten: Es war seine erste Erfahrung mit dem Existentialismus gewesen; damals hatte er verstanden, dass er allein war auf dieser Welt. Aber zu jener Zeit, als er dreizehn gewesen war und ich elf und er mich nicht in sein Zimmer ließ, während er weinend auf dem Bett lag, da hatte ich sein Verhalten als Zurückweisung missverstanden.
«Dass Andrea sich im Moment verschließt», sagte ich, «darfst du nicht persönlich nehmen.»
«Das ist ziemlich schwierig.»
«Ich weiß. Trotzdem geht es dabei nicht um dich. Dahinter stecken nur die Hormone.»
«Nein, Karin, hier geht es nicht nur um Hormone.» Er schüttelte den Kopf und weigerte sich, mich anzusehen. Und ich wusste, dass er damit auf die letzten Dominosteine anspielte.
Ich trank mein Glas aus, schenkte uns beiden wieder ein.
Es war zwei Wochen her, dass wir das letzte Mal von JPP gehört hatten. Die SOKO hatte seinen Videoanruf bei mir bis zu einer Schule im abgelegenen kenianischen Dorf Murungurune zurückverfolgt. Die ansässigen Behörden hatten schnell in Erfahrung gebracht, dass keiner in der Gegend jemanden gesehen hatte, der Martin Price ähnelte. Als Fremder und Weißer wäre er in dem kleinen afrikanischen Ort sofort aufgefallen. Ferner war festgestellt worden, dass die Schule in Murungurune versäumt hatte, ihren Server vor Eindringlingen zu sichern. Das holte sie sofort nach, während sie zugleich einige unerschrockene Journalisten empfing, die der Welt mit dramatischer Geste vorführen wollten, wie viele Leben weltweit in den Bann eines Kriminellen geraten konnten. Die implizite Botschaft war, dass niemand sich in Sicherheit wiegen durfte. Ganz gleich, wo. Nicht einmal die friedliebenden Menschen in Murungurune. Die allerdings wirkten eher verblüfft, als sich angesichts ihrer flüchtigen Berührung mit einem manipulativen Serienmörder aus Amerika zu fürchten. Ich hatte sie in den Nachrichten gesehen, und sie hatten ganz offensichtlich keine Angst vor JPP. Ein zahnloser älterer Mann lachte sogar darüber, wie absurd es doch war, dass
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