Der Domino-Killer
Mal die Woche Therapie. Manchmal war ich etwas neidisch, wenn Andrea die Wohnung verließ. Aber ich war entschlossen, hier zu bleiben, bis ich nicht mehr gebraucht wurde, und wann das sein würde, war nicht abzusehen.
Ich sagte Joyce, dass es mir gutging. Ich kam klar. Die Medikamente wirkten wahre Wunder. Und ich fühlte mich auch viel besser, weil ich jetzt eine sinnvolle Aufgabe hatte. Wovon ich ihr nichts erzählte, war die brennende Unruhe in mir. Ich hatte das Gefühl, dass ich irgendwann unweigerlich dagegen rebellieren würde, hier weiter eingesperrt zu sein. Äußerlich schien es mir zu helfen, mich mit Hausarbeit von meiner Trauer und meinem Zorn abzulenken – es war wie eine Therapie für mich, und Jon und seine Familie brauchten weiß Gott jemanden, der zuhörte und mit anpackte –, aber die in mir brodelnden Emotionen waren keineswegs abgekühlt, sondern schliefen höchstens vorübergehend.
Ich kochte. Ich putzte. Ich spielte mit Susanna. Redete stundenlang mit Jon und noch länger mit Andrea. Sie verbrachte jeden Tag mehr Zeit im sonnigen Wohnzimmer, zog sich nun morgens sogar an und öffnete die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer. Meine Eltern besuchten uns ein paar Mal die Woche, und Mama brachte uns immer eine Tasche mit Puzzles oder Bastelutensilien mit. Zusammen falteten wir aus dem bunten Papier eines Origami-Sets Vögel und Schmetterlinge … so viele, dass wir daraus ein großes Mobile machten und es im Wohnzimmer an die Decke hängten. Auf unterschiedliche Arten vertrieben wir uns die Zeit und leisteten einander Gesellschaft. Dennoch konnte die Langeweile extrem werden; wir waren der lebende Beweis dafür, dass es alles andere als erholsam war, den ganzen Tag zu Hause bleiben zu müssen und auf unbestimmte Zeit nichts zu tun. Es geschah einfach gar nichts hier. Stattdessen hingen wir in der Luft, warteten ab, für den Fall, dass vielleicht doch noch etwas passieren könnte. Seltsamerweise war es ja eigentlich unser Ziel, genau das zu verhindern.
Also wurde es zu einem Riesenereignis, als David, nachdem ich ungefähr zwei Wochen im Penthouse wohnte, zum ersten Mal lächelte. Wir feierten das mit einer Flasche Champagner, die Mac mitbrachte, als er davon hörte – er war ohnehin auf dem Weg in die Stadt gewesen, obwohl er nicht erwähnte, weshalb. Er ließ den Korken knallen und goss den schäumenden Champagner in die Weingläser, die Lisette, Jon und ich ihm hinhielten. Andrea und Susanna stießen mit Apfelsaft an. Wir tranken und unterhielten uns darüber, was für Fortschritte David machte, und malten uns aus, wie er wohl sein würde, wenn er erst einmal ein richtiger Junge sein würde. Als würde er all die Aufmerksamkeit genießen, lächelte David noch einmal. Und noch einmal. Das Lächeln erblühte auf seinem kleinen Gesicht wie eine sich im Zeitraffer öffnende Blume. Die blaugrauen Augen begannen zu leuchten, was jedes Mal zu glücklichen Begeisterungsstürmen führte.
Am Nachmittag hielt David ein Schläfchen, Andrea las Susanna im Schlafzimmer vor, und Jon telefonierte wieder einmal mit irgendjemandem wegen eines Filmprojekts, das anzunehmen er sich nicht in der Lage sah. Ich beugte mich zu Mac und flüsterte: «Bring mich hier raus.»
Er lächelte verschwörerisch.
Ich bedeutete Jon durch Gesten, dass ich bald zurück sein würde, und Mac begleitete mich nach draußen.
Seit ich in das Penthouse gezogen war, hatte ich manchmal auf dem Balkon gesessen und einfach nur auf die Stadt gestarrt, die in dieser Höhe vor allem aus Dächern zu bestehen schien. Oder in den Himmel, hatte beobachtet, wie die Wolken ihre Form änderten, während sie vorbeizogen. Manchmal stellte ich mich auch ans Geländer und schaute hinunter auf den weit entfernten Bürgersteig; die Menschen sahen von hier oben aus wie Ameisen und die Autos, als wären sie Spielzeug. Es hatte mich überrascht, wie schnell ich mich eingesperrt fühlte. Das lag einerseits daran, dass ich in diesem Hochhaus festsaß. Andererseits war der Effekt aber auch rein psychisch, weil ich natürlich wusste, dass wir uns zu unserer eigenen Sicherheit nicht wegbewegen durften. Und dann spielte auch das Prozac dabei eine Rolle. Ich hatte dadurch so viel neue Energie und sehnte mich nach mehr Bewegung und Freiraum, als mir mein momentanes Leben gestattete.
Joyce und ich hatten kürzlich darüber gesprochen, was Glück bedeutete; dass man Glück ganz spontan bei gewissen Erfahrungen empfand, dass es nichts mit materiellen Dingen zu tun
Weitere Kostenlose Bücher