Der Domino-Killer
hätte dich gestern Abend nicht abholen und mitnehmen dürfen … das war ein Fehler. Mein Fehler.» Seine Hand löste sich vom Steuer und glitt auf seinen Schoß. Er ballte sie zur Faust, und ich spürte seine Einsamkeit. Meinetwegen. Er zeigte es mir nicht offen, versteckte es, damit ich mich nicht bedrängt fühlte. Ich begriff, dass er nie versuchen würde, mich aus meinem Schneckenhaus herauszulocken, weil er fürchtete, er könnte zu weit gehen und mich dann ganz verlieren. Dass Mac immer versucht hatte, mir auf jede nur erdenkliche Art zu helfen, meine Familie vor weiteren Verbrechen zu beschützen, war kein Geheimnis; jetzt verstand ich, dass er sich auch danach sehnte, meine innere Qual zu beenden … vielleicht sogar danach, mich zu lieben. Aber er wagte es nicht, sich mir zu offenbaren. Für mich war die Liebe wie der Anblick eines sich schnell drehenden Rades, bei dem man die einzelnen Speichen nicht mehr erkennen konnte: Man betrachtete es fasziniert, versuchte hineinzugreifen, es festzuhalten. Doch genau dadurch wurde die Illusion zerstört.
«Mac …», begann ich, vermochte aber nichts von dem, was mir durch den Kopf ging, in verständliche Worte zu fassen.
Er schaute aus dem Fahrerfenster, weg von mir und hinaus auf die dunkle Straße. «Geh jetzt rein und schlaf ein bisschen. Bitte .»
«Gute Nacht», murmelte ich und stieg aus, spürte, dass er genau beobachtete, wie ich zum Haus ging, damit er sicher sein konnte, dass ich wohlbehalten drinnen ankam, obwohl ja ein Überwachungswagen auf der anderen Straßenseite stand. Ich hörte sein Auto erst davonfahren, nachdem ich die Tür geschlossen hatte.
Im Haus herrschte eine unheimliche Stille. Oben lauschte ich an der Schlafzimmertür meiner Eltern und hörte meinen Vater geräuschvoll atmen. Es war irgendwie tröstlich, sich vorzustellen, wie die beiden dort drinnen heil und unversehrt in ihrem Bett schliefen, obwohl meine Mutter wahrscheinlich hellwach war. Ich stand noch einen Augenblick da und horchte angestrengt. Dass ich meine Mutter nicht hören konnte, bedeutete, dass sie tatsächlich wach war. Dann vernahm ich eine Bewegung im Zimmer, und die Tür öffnete sich.
«Habe ich dich geweckt?», flüsterte ich.
Sie schüttelte den Kopf und kam hinaus auf den Flur, schloss die Tür wieder. «Ich musste deinen Vater nach Hause bringen; die ganze Aufregung bei Jon … er war vollkommen verwirrt.»
«Was war denn los bei Jon?»
Sie schüttelte den Kopf, und Tränen stiegen ihr in die Augen. «Sie suchen noch immer weiter – Hunderte Menschen, Karin. Es ist unglaublich, wie viel Anteilnahme all diese Fremden zeigen. Andrea geht nicht raus, es geht ihr sehr schlecht. Jon stürzt sich in seinem Zorn in Aktionismus, weil …» Sie verstummte und drückte mich fest an sich.
Wie sollte ich ihnen allen die Wahrheit sagen? Meinen Eltern? Jon und Andrea? Wie konnte ich ihnen erklären, wie blind wir gewesen waren? Dass JPP einen Komplizen hatte – dass es von Anfang an immer zwei Täter gewesen waren .
KAPITEL 16
«Und jetzt das Neuste über Susanna Castle, das kleine Mädchen, das vor zwei Tagen an seinem Geburtstag verschwunden ist», kündigte der Moderator der Morgennachrichten an.
Das Phantombild einer Frau erschien auf der Mattscheibe – und verdrängte alles andere um mich herum aus meinem Bewusstsein: wie die Eier in der Pfanne brutzelten und dass sie fast fertig waren, dass es angenehm nach Kaffee roch oder dass meine Mutter drei Schüsselchen mit gewürfelter Cantaloupe-Melone darin zum Tisch balancierte. Ich starrte zum Fernseher und wusste, dass ich da gerade der Frau ins Gesicht blickte, der gesuchten Unbekannten. Glattes graubraunes Haar in Schulterlänge, große Augen, ausgeprägte Wangenknochen, schmaler Kiefer, dünne Lippen, ernster Gesichtsausdruck. Ich erkannte die Handschrift von Narcisco Jones, dem Phantombildzeichner der Polizei in Maplewood. Bei Personen mittleren Alters tuschte er immer diese leichten Schatten um die Augen. Mein Magen zog sich zusammen. Die Lungen versagten ihren Dienst. Die Zeit schien stillzustehen im Haus meiner Eltern, die letzten zwei Jahre wie ungeschehen, und ich sah mich auf einmal der Frau gegenüber, die möglicherweise JPPs Komplizin war.
Meine Mutter drehte sich abrupt zum Fernseher um, und eine der Schüsseln rutschte ihr aus der Hand. Melonenstücke und Porzellanscherben lagen gleich darauf auf dem Fußboden verstreut.
«Die Polizei von New Jersey sucht nach dieser Frau, um sie zu
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