Der Domino-Killer
näher zu rücken.
«Die können uns sehen», sagte ich und meinte die Beamten im wie immer vor dem Haus stehenden Überwachungswagen. «Und meine Eltern sind bestimmt schon wach.»
«Ich bin einundvierzig Jahre alt, Karin, lebe offiziell getrennt und lasse mich gerade scheiden. Und du?»
«Dreiunddreißig, verwitwet.» Das waren die nackten Tatsachen.
«Was hätten wir also zu verstecken?»
Er hatte recht. Es gab wirklich nichts, wovor wir uns hätten fürchten müssen, was unsere Beziehung anging. Wir küssten uns langsam, zärtlich, intensiv. Sein Mund war mir bereits vertraut, genauso wie seine Lippen und seine Zunge, und mein brennendes Verlangen verwandelte sich in ein stetiges Begehren. Ich spürte, wie weich seine Haut war, sog seinen Duft ein: von Pinienseife und Sex, weil wir beide noch nicht zum Duschen gekommen waren.
«Ich ruf dich nachher an», flüsterte er mir ins Ohr.
«Schalt dein Handy ein.»
Er lachte. «Es ist an, und ich habe es hier in der Hose, wie immer, Karin. Warte mal …» Er lehnte sich zurück, um das Telefon aus der Tasche zu ziehen, klappte es auf und speicherte einen Klingelton für mich ab: Er klang wie ein altmodisches Telefon, ein volltönendes Klingeln mit regelmäßigen Pausen dazwischen. Wir küssten uns noch ein Mal, und ich stieg aus. Erst als ich im Haus war, hörte ich, wie Macs Wagen davonfuhr.
Ich wusste, dass meine Eltern da waren, weil das Auto meiner Mutter draußen stand; es war früh, und ich vermutete, dass sie noch im Bett lagen. Ich ging in mein Zimmer und legte mich hin. Zwar hatten mir all die Ereignisse der letzten Nacht einen Energieschub gegeben, aber ich war dennoch restlos erschöpft. Obwohl ich ja steif und fest behauptet hatte nicht schlafen zu können, war ich in den letzten drei Tagen kaum im Bett gewesen, und so sank ich sofort in Schlaf.
Ich erwachte mit dem Gesicht in den Kissen, vollständig bekleidet und völlig desorientiert. Weder wusste ich im ersten Moment, welchen Tag wir hatten, noch wo ich war. Dann bemerkte ich, dass ich mich in meinem alten Kinderzimmer befand, und schaute auf die Uhr: sieben Minuten vor fünf. Es musste Nachmittag sein, denn durch die Vorhänge fiel helles Sonnenlicht. Ich erinnerte mich noch, dass ich sie am Morgen bei meiner Rückkehr zugezogen hatte, um mich ein wenig auszuruhen. Stattdessen war daraus ein stundenlanger Tiefschlaf geworden.
Mein Handy lag auf dem Nachttisch, wo ich es abgelegt hatte. Keine neuen Nachrichten. Nach dem Duschen ging ich nach unten in die Küche, wo mir sofort zwei Dinge ins Auge fielen: eine Packung Hühnerfilets, die zum Auftauen auf der Anrichte lag, und ein Umschlag aus dem Briefpapier-Set meiner Mutter, auf dem in Macs Handschrift mein Name stand. Er musste hier gewesen sein, während ich schlief, und meine Mutter hatte ihm den Umschlag gegeben. Er hatte mich wohl nicht wecken wollen – dann war es bestimmt auch nichts allzu Dringendes gewesen. Ich zog das zusammengefaltete weiße Blatt heraus und öffnete es. Ein zweites Stück Papier fiel herunter auf den Boden. Ich bückte mich, um es aufzuheben. Es handelte sich um den alten Zeitungsartikel über die Mathe-AG, die Nancy Maxtor geleitet hatte. Darauf war auch das Foto, das Mac und ich in der Nacht zuvor so eingehend studiert hatten.
Sieh dir das Bild noch einmal an – aber ganz genau , hatte er auf das dabeiliegende Blatt gekritzelt. Siehst du, was ich sehe? Ruf mich an, wenn du wach bist .
Ich hielt den Artikel ans Fenster, aber das helle Sonnenlicht ließ die Rückseite des Zeitungspapiers hindurchschimmern, sodass ich das Bild nicht richtig erkennen konnte. Also legte ich den Artikel auf die Anrichte, strich ihn glatt und beugte mich darüber. Da stand die lächelnde Nancy Maxtor mit ihrer ovalen Brille und dem goldenen Kreuz um den Hals. Und der junge Neil Tanner in der zweiten Reihe. Ich betrachtete die anderen Gesichter, schaute mir den Raum an, in dem man das Foto geschossen hatte – ein Klassenzimmer, so schien es jedenfalls, denn ein Teil der Tafel war zu erkennen –, dann betrachtete ich die Gesichter der anderen Kinder noch einmal, eins nach dem anderen.
Und da bemerkte ich sie, in der ersten Reihe ganz rechts: Christa Maxtor. Oder besser gesagt: ihr Lächeln. Nur lächelte mir hier jemand anders so überschwänglich und strahlend entgegen. Ich sah genauer hin, wie Mac mich in seinem Brief gebeten hatte. Starrte das pummelige Gesicht des Mädchens mit den kleinen Augen an, das mit seinen
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